Ein neuer und alarmierender Trend beschäftigt derzeit die deutschen Sicherheitsbehörden: In mehreren Bundesländern formieren sich zunehmend neonazistische Jugendbanden, die sich aggressiv, gut organisiert und digital vernetzt präsentieren.
Der Verfassungsschutz warnt in seinem aktuellen Bericht eindringlich vor dieser Entwicklung und bezeichnet die Szene als „hochgefährlich für Minderheiten und die Demokratie“. Besonders betroffen sind queere Menschen, politische Gegner und Migranten – Zielscheiben einer Gewaltkultur, die an die sogenannten „Baseballschlägerjahre“ der Nachwendezeit erinnert.
Überblick über die Szene
Nach Erkenntnissen des Bundesamts für Verfassungsschutz gibt es bundesweit mehrere Dutzend solcher neonazistischer Jugendgruppen. Die Gruppierungen treten unter martialischen Namen auf – darunter „Deutsche Jugend Voran“ (DJV), „Jung und Stark“ (JS) oder „Letzte Verteidigungswelle“ (LVW). Diese Gruppen zeichnen sich durch ein geschlossenes Auftreten, paramilitärisches Gehabe und eine offensive digitale Kommunikationsstrategie aus.
Besonders aktiv zeigen sich die Gruppen in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. In Brandenburg agieren zum Beispiel teils schon 14- bis 16-jährige Jugendliche, die sich offen im Skinhead-Stil kleiden und rassistische sowie queerfeindliche Parolen skandieren. Auch körperliche Übergriffe und Brandstiftungen in Cottbus und Umgebung werden einzelnen dieser Gruppen zugerechnet. Laut Medienberichten gab es allein in den letzten sechs Monaten eine signifikante Zunahme einschlägiger Straftaten mit jugendlichen Tätern.
Ein beunruhigendes Merkmal dieser neuen Bewegung ist ihre digitale Vernetzung. Gruppen tauschen sich über Telegram, Discord oder geschlossene Instagram-Kanäle aus. Hier werden Aktionsanleitungen geteilt, Propaganda verbreitet und neue Mitglieder rekrutiert.
Ursachen und Radikalisierungswege
Die Frage, warum sich Jugendliche neonazistischen Gruppen anschließen, ist komplex – und gleichzeitig dringlich. Die Radikalisierung beginnt in vielen Fällen schleichend: Jugendliche werden über soziale Medien auf rechtsextreme Inhalte aufmerksam gemacht. Besonders TikTok, YouTube Shorts und Telegram bieten ideale Plattformen für einfache, emotional aufgeladene Botschaften. Rechtsextreme Influencer und Memes mit NS-Verherrlichung oder Hassbotschaften gegen queere Menschen und Ausländer sind dort in Sekundenschnelle konsumierbar.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die subkulturelle Anziehungskraft. Die neonazistischen Jugendgruppen inszenieren sich mit einer Mischung aus Gewaltverherrlichung, Kameradschaft und Erlebniskultur. Das martialische Auftreten in Bomberjacken, mit Stiefeln und Glatze hat bei vielen Jugendlichen einen rebellischen Reiz. Die Gruppen versprechen Zugehörigkeit, Bedeutung und Macht – in einem gesellschaftlichen Umfeld, das für viele als orientierungslos empfunden wird.
Hinzu kommt die gesellschaftliche Polarisierung. Populistische Diskurse über Migration, Genderfragen oder Klimapolitik finden auch bei jungen Menschen Anklang. Die AfD verzeichnet in Umfragen unter Erstwählern überdurchschnittlich hohe Zustimmungswerte. Diese politische Stimmungslage begünstigt eine frühe politische Radikalisierung – nicht selten bereits im Schulalter.
Besonders aktive Gruppen im Fokus
Ein genauer Blick auf einige Gruppierungen offenbart die Ernsthaftigkeit der Lage:
- Deutsche Jugend Voran (DJV): Diese Gruppe hat ihren Ursprung in Berlin und gilt als besonders organisiert. Ihr Erscheinungsbild erinnert an die „Jungen Nationalisten“, die frühere Jugendorganisation der NPD. DJV richtet sich explizit an 14- bis 20-Jährige und versucht durch provokative Aktionen, etwa Störungen von CSDs oder das Entfernen von Regenbogenflaggen, Aufmerksamkeit zu erregen. Die Gruppe unterhält auch Kontakte zur „Identitären Bewegung“.
- Jung und Stark (JS): Ursprünglich aus Mitteldeutschland, zählt diese Gruppe laut Verfassungsschutz zu den zahlenmäßig größten mit mehreren hundert Unterstützern. Sie fällt durch öffentlichkeitswirksame Aufmärsche, körperliche Gewalt gegen Linke und gut gemachte Social-Media-Kampagnen auf. JS gilt als Vorreiter im digitalen Raum.
- Letzte Verteidigungswelle (LVW): Diese Gruppierung ist besonders gefährlich, da sie terroristische Strukturen aufweist. In Niedersachsen verübten mutmaßliche LVW-Mitglieder Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und linke Jugendzentren. In mehreren Fällen wurden bei Jugendlichen Waffen gefunden. Einige Mitglieder befinden sich in Untersuchungshaft.
- Elblandrevolte: Als Ableger der JN in Sachsen bekannt geworden, nutzt diese Gruppe TikTok, um nationalistische und antidemokratische Inhalte mit Musik- und Fitnessvideos zu verknüpfen. Gewalt gegen politische Gegner ist Teil der Gruppenkultur.
- Active Clubs: Ein Netzwerk aus der internationalen Neonazi-Szene, das Kampfsport als Strategie der ideologischen und körperlichen Schulung nutzt. Auch deutsche Jugendliche nehmen an Veranstaltungen dieser Art teil. Der militärische Drill und die klare Feindbildorientierung fördern eine Radikalisierung mit potenziell terroristischer Schlagkraft.
Risiken und aktuelle Entwicklungen
Laut dem Bundeskriminalamt ist die Zahl der politisch motivierten Straftaten 2024 auf über 84.000 gestiegen – mehr als die Hälfte davon mit rechtsextremem Hintergrund. Besonders besorgniserregend: Ein erheblicher Anteil der Täter ist unter 21 Jahre alt. In mehreren Fällen wurden Jugendliche bei Angriffen auf queere Menschen oder Migrant:innen auf frischer Tat ertappt. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang warnte jüngst öffentlich: „Wir haben es mit einer wachsenden Szene zu tun, die gewaltbereit, gut organisiert und digital mobilisierbar ist.“
Auch im schulischen Umfeld tauchen zunehmend rechtsextreme Symbole auf: Hakenkreuze auf Tischen, antisemitische Parolen in Chatgruppen, Hetze gegen Mitschüler:innen mit Migrationshintergrund. Lehrkräfte berichten von einer Verrohung der Sprache und einer zunehmenden Akzeptanz extremistischer Inhalte. Die sozialen Medien sind dabei das Einfallstor und der Multiplikator zugleich.
Hinzu kommt, dass einige Gruppierungen gezielt versuchen, staatliche Strukturen zu unterwandern. Laut Medienberichten werden unter anderem junge Menschen aus Bundeswehr-affinen Familien angesprochen. Einige Gruppen bieten „Wehrsportlager“ an – unter dem Deckmantel von Fitness- und Selbstverteidigungstrainings.
Gegenmaßnahmen und öffentliche Debatte
Die Sicherheitsbehörden reagieren mittlerweile mit erhöhter Sensibilität. In mehreren Bundesländern laufen Ermittlungen gegen Mitglieder von LVW, JS und DJV. Es wurden Wohnungen durchsucht, Waffen sichergestellt und Social-Media-Kanäle beschlagnahmt. Doch viele Experten halten das für nicht ausreichend.
Die Politik fordert ein entschlosseneres Vorgehen. SPD-Innenpolitikerin Nancy Faeser kündigte im Juni 2025 an, die Aufklärung an Schulen zu intensivieren. Außerdem soll das Demokratiefördergesetz erweitert werden, um extremistische Onlinepropaganda besser zu bekämpfen. Auch KI-basierte Früherkennungssysteme wie „KI4Demokratie“ sollen ausgebaut werden, um rechtsextreme Netzwerke frühzeitig zu erkennen.
Zivilgesellschaftliche Akteure wie Amadeu Antonio Stiftung, Gesicht Zeigen! oder EXIT Deutschland arbeiten an Präventionsprogrammen. Dennoch wird die öffentliche Debatte zunehmend polarisiert: Während konservative Stimmen vor einem „Generalverdacht gegen Jugendliche“ warnen, fordern linke Initiativen eine Offensive gegen rechtsextreme Erziehungsmuster – auch in Sportvereinen, Jugendzentren und Familien.
Jung, medial versiert und offen gewaltbereit
Die zunehmende Aktivität neonazistischer Jugendgruppen stellt eine ernstzunehmende Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung dar. Die Szene ist jung, medial versiert und offen gewaltbereit. Ihre Gegner sind klar definiert: queere Menschen, politische Linke, Migranten und Journalist:innen. Der Rückgriff auf Symbole und Strategien der 1990er-Jahre, gepaart mit digitaler Reichweite, macht diese Gruppen besonders gefährlich.
Die Gesellschaft steht vor der Aufgabe, diese Entwicklung nicht nur mit repressiven Mitteln, sondern auch mit sozialpädagogischen und kulturellen Maßnahmen zu beantworten. Schulen, Eltern, soziale Träger und die Politik müssen gemeinsam eine Haltung entwickeln, die Jugendliche frühzeitig stärkt – gegen Menschenfeindlichkeit und für demokratische Werte.
Es geht letztlich nicht nur um Extremismusprävention. Es geht um die Frage, in welcher Gesellschaft die nächste Generation leben soll. Der Ruf des Verfassungsschutzes ist eindeutig: Die Jugend darf nicht den Neonazis überlassen werden.