Am 14. Juni 1985 wurde im luxemburgischen Moselstädtchen Schengen ein Abkommen unterzeichnet, das die Art und Weise, wie Menschen in Europa reisen, für immer verändern sollte.
Fünf Staaten – Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande – verständigten sich auf ein Abkommen, das auf die Abschaffung der stationären Grenzkontrollen zwischen ihren Ländern abzielte. Aus einer kleinen, fast symbolischen Vereinbarung wurde mit der Zeit ein zentraler Bestandteil europäischer Integration. Heute umfasst der Schengen-Raum 29 Staaten und erlaubt rund 450 Millionen Menschen weitgehend kontrollfreies Reisen. Doch pünktlich zum 40-jährigen Jubiläum wird das System erneut auf die Probe gestellt. Rückkehrende Grenzkontrollen, Migrationsdruck und Sicherheitsfragen werfen Zweifel am Fortbestand der Idee auf, die einst so grenzenlos wirkte.
Historischer Rückblick
Vorgeschichte und Motivation
Die Wurzeln des Schengener Abkommens reichen zurück in die frühen 1980er-Jahre. Bereits im Zuge der Römischen Verträge von 1957 wurde die Vision eines „Europas ohne Grenzen“ angedacht, doch konkrete Initiativen blieben lange aus. Die wirtschaftliche Integration – insbesondere durch den gemeinsamen Binnenmarkt – machte jedoch deutlich, dass offene Grenzen auch im Personenverkehr notwendig waren, um die Freiheiten der Europäischen Gemeinschaft voll auszuschöpfen.
1984 brachte Frankreich erstmals die Idee eines grenzfreien Reisegebiets konkret auf die Agenda. Deutschland zeigte sich offen, aber zögerlich. Schließlich kam es 1985 zu einer Einigung, bei der sich die fünf genannten Staaten im kleinen Ort Schengen – einem Symbol für Einigkeit – darauf verständigten, sukzessive die Personenkontrollen an den Binnengrenzen abzuschaffen.
Umsetzung und Ausweitung
Das Abkommen trat jedoch erst zehn Jahre später, 1995, in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits mehrere weitere Staaten dem Projekt angeschlossen. Mit Italien, Spanien und Portugal stießen 1997 südeuropäische Länder dazu, später folgten die skandinavischen Staaten, mit Ausnahme Dänemarks (das jedoch Sonderregelungen hat). Einen massiven Entwicklungsschub erhielt das Schengen-System 2007, als zahlreiche osteuropäische Länder wie Polen, Tschechien und Ungarn beitraten.
Zu den jüngsten Entwicklungen zählt der Beitritt Kroatiens (2023), sowie die nun vollständige Integration von Bulgarien und Rumänien. Nachdem sie jahrelang nur mit Luft- und Seeweg beteiligt waren, öffnen sich zum 31. März 2025 nun auch ihre Landgrenzen.
Funktionsweise des Schengen-Raums
Der Schengen-Raum basiert auf einem einfachen, aber weitreichenden Prinzip: Personen sollen innerhalb des Raumes ohne Grenzkontrollen reisen können – unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Dieses Recht gilt sowohl für EU-Bürger als auch für Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltstiteln oder Kurzvisa.
Flankiert wird das System durch einheitliche Regeln zum Außengrenzschutz, durch das Schengener Grenzkodex-Regelwerk und durch Sicherheitskooperationen. Zentrale Werkzeuge sind das Schengener Informationssystem (SIS), in dem Behörden europaweit gesuchte Personen und Objekte erfassen, sowie Frontex – die gemeinsame europäische Grenzschutzagentur, die Mitgliedstaaten bei der Kontrolle der Außengrenzen unterstützt.
Aktuelle Herausforderungen und Entwicklungen
Neue Mitglieder und geografische Ausweitung
Mit dem vollständigen Beitritt Bulgariens und Rumäniens schließt sich 2025 eine Lücke, die seit fast zwei Jahrzehnten bestand. Beide Länder hatten die technischen Voraussetzungen seit langem erfüllt, doch politische Vorbehalte – vor allem von Österreich – verzögerten ihre Aufnahme. Der Durchbruch kam Ende 2023, allerdings zunächst nur für Luft- und Seewege. Die vollständige Integration mit offenen Landgrenzen markiert nun einen Meilenstein und bringt einen symbolisch wichtigen Zuwachs für den Schengen-Raum.
Technologischer Fortschritt – EES und ETIAS
Um gleichzeitig Sicherheit und Freiheit zu gewährleisten, setzen die EU und ihre Mitgliedstaaten auf Digitalisierung. Das Entry/Exit-System (EES), das voraussichtlich ab Oktober 2025 schrittweise eingeführt wird, soll biometrische Daten von Drittstaatlern bei der Ein- und Ausreise speichern. Ergänzt wird dies durch ETIAS – ein elektronisches Vorabregistrierungssystem ähnlich wie das US-amerikanische ESTA. Dieses wird jedoch frühestens 2026 vollständig einsatzbereit sein.
Diese Maßnahmen sollen den Außengrenzschutz effizienter gestalten und illegale Einreisen sowie Überaufenthalte begrenzen, ohne dabei auf stationäre Binnengrenzkontrollen zurückzugreifen.
Rückkehr nationaler Grenzkontrollen
Trotz aller Fortschritte kehrt in den letzten Jahren eine Realität zurück, die viele längst überwunden glaubten: nationale Grenzkontrollen. Deutschland kontrolliert seit Herbst 2023 wieder verstärkt an den Grenzen zu Polen, Tschechien, Österreich und der Schweiz – offiziell zur Bekämpfung illegaler Migration und Schleuserkriminalität. Frankreich, Dänemark, Schweden und weitere Länder führen ebenfalls temporäre Kontrollen durch – teils aus Gründen der inneren Sicherheit, teils wegen Terrorbedrohungen.
Die EU erlaubt unter bestimmten Bedingungen zeitlich befristete Grenzkontrollen. Doch zahlreiche Staaten nutzen diese Regelung nun über Jahre hinweg. Kritiker, darunter Luxemburgs Premier Luc Frieden und der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, werfen den Staaten vor, das Schengen-System „mit Füßen zu treten“ – so der Titel eines Artikels der Deutschen Welle. Auch im deutschen Bundesrat formiert sich Widerstand: Der saarländische Ministerpräsident Anke Rehlinger etwa warnt davor, Grenzkontrollen „zum Dauerzustand“ zu erklären.
Politische Reaktionen zum 40. Jubiläum
Zum 40. Jahrestag am 14. Juni 2025 versammelten sich Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten in Schengen, um eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden. Sie bekräftigten sieben Grundsätze, darunter die Verpflichtung zu offenen Binnengrenzen, die Modernisierung des Außengrenzschutzes, die Reform des Rückführungsrechts sowie das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten. Ziel sei es, die Integrität des Schengen-Raums zu erhalten und gleichzeitig Sicherheit und Migrationsmanagement zu stärken.
Doch dieser politische Wille steht in einem Spannungsfeld zu den nationalen Realitäten. Polen etwa reagierte empört auf die Verlängerung deutscher Grenzkontrollen und forderte ein Ende dieser Maßnahmen. Österreich wiederum verteidigt seine Blockadehaltung gegenüber neuen Beitrittskandidaten wie Zypern mit Verweis auf fehlende Sicherheitsgarantien.
Ausblick und Perspektiven
Der Schengen-Raum befindet sich in einem Zustand zwischen Reform und Rückzug. Einerseits gibt es klare politische Bestrebungen, die Idee der Reisefreiheit zu stärken – durch mehr Kooperation, digitale Technologien und gemeinsame Verantwortung. Andererseits wachsen die innenpolitischen Zwänge: Migration, Terrorgefahr, Pandemie-Erfahrungen und Populismus fördern nationale Reflexe.
Die künftige Stabilität des Systems hängt davon ab, ob es gelingt, den Sicherheitsbedenken mit smarter Politik und gemeinsamer Technik zu begegnen – ohne dabei das Grundprinzip offener Grenzen aufzugeben. Auch das Vertrauen unter den Mitgliedstaaten ist entscheidend. Solange einzelne Länder sich nicht auf die Kontrollen anderer verlassen wollen oder können, wird Schengen ein fragiles Versprechen bleiben.
Analysen des European Council on Foreign Relations (ECFR) zeigen: Schengen ist nicht nur ein technisches System, sondern ein symbolisches Bollwerk gegen Renationalisierung. Wer Schengen aufgibt, riskiert nicht nur Staus an Grenzen, sondern auch einen Vertrauensverlust, der die gesamte EU untergraben könnte.
Symbol europäischer Einigung
Vier Jahrzehnte nach der Unterzeichnung ist das Schengener Abkommen noch immer eines der sichtbarsten und wirkmächtigsten Symbole europäischer Einigung. Millionen von Menschen profitieren täglich davon – sei es im Urlaub, bei beruflichen Reisen oder beim täglichen Grenzpendeln.
Doch diese Freiheit ist nicht selbstverständlich. Sie steht unter Druck – durch geopolitische Spannungen, nationalstaatliche Interessen und die Herausforderungen moderner Migrations- und Sicherheitspolitik. Das Jubiläum mahnt: Nur wenn Europa gemeinsam handelt und sich auf die ursprünglichen Ideale des Vertrauens, der Solidarität und der offenen Grenzen zurückbesinnt, kann Schengen auch in Zukunft bestehen. Nicht als historische Erinnerung, sondern als lebendige Realität.