Gehörlosigkeit und Identität

Gehörlosigkeit und Identität – Vordiplomarbeit, vorgelegt im Fachbereich Sozialwesen Fachhochschule Fulda, Wintersemester 2002/2003

Der Zusammenhang zwischen Identität und Gehörlosigkeit wird immer wieder aufgegriffen und diskutiert. Lange Zeit fand man den Begriff hauptsächlich im erziehungswissenschaftlichen Kontext. In Verbindung mit Gehörlosigkeit wurde er erst später gebraucht. Es gibt einige Autoren, die über dieses Thema geschrieben haben und immer noch in Zeitschriften Artikel über das Thema veröffentlichen. Autoren, die hier genannt werden müssen sind zum einen Bernd Ahrbeck und Wolfgang Hintermair. In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich hauptsächlich mit der Habilitationsschrift Ahrbecks über das Thema Identität und Gehörlosigkeit beschäftigen.

Ahrbeck bezieht sich in seiner Schrift sehr oft auf die Identitätstheorien Meads, Krappmanns und Eriksons. Im zweiten Kapitel werde ich die gleichen Theorien aufgreifen und sie erläutern.

Weiterhin habe ich mich mit den Identitätstheorien unter dem Gesichtspunkt der Gehörlosigkeit beschäftigt und werde das Zusammengetragene im dritten Kapitel aufführen.

Ich möchte anfänglich darauf hinweisen, dass diese Arbeit auf keinen Fall einen Anspruch auf vollkommene und umfassende Beleuchtung des Themas stellt. Ich habe versucht – soweit es mir in diesem Rahmen möglich war – das Thema wissenschaftlich zu erfassen und zu erläutern.

Janina Köck, Fulda, den 10.01.2003
1. Prüfer: Professor Dr. Werner Nothdurft
2. Prüfer: Professor Dr. Volker Hinnenkamp

Gliederung

1. Einleitung

2.Identitätstheorien

2.1.Identitätstheorie nach G. H. Mead
2.2.Identitästheorie nach Lothar Krappmann
2.3.Identitätstheorie nach Erik H. Erikson

3.Identitätsentwicklung und Gehörlosigkeit

3.1.Gehörlosigkeit und Identität in der Theorie Meads
3.2.Gehörlosigkeit und Identität in der Theorie Krappmanns
3.3.Gehörlosigkeit und Identität in der Theorie Eriksons

4.Schlussbemerkung

5. Literaturverzeichnis

Identitätstheorien: Identitätstheorie nach G.H. Mead

Dieses Kapitel befasst sich mit der Idenitätstheorie bzw. dem Begriff des „Selbst“ nach Georg H. Mead. Da eine umfassende und ausführliche Erläuterung dieser soziologischen Identitätstheorie nach Mead den Rahmen dieser Vordiplomarbeit sprengen würde, beschränke ich mich auf die für das Thema wichtigsten Aspekte, die überwiegend die Entwicklung des Selbst beim einzelnen Menschen einschließen. Am Anfang möchte ich erst ein wenig zu der Person George Herbert Mead schreiben.

George Herbert Mead wurde 1863 als Sohn eines College-Professors und einer College-Professorin für Theologie (beide am Oberlin College) geboren.
1879 tritt selbst ins Oberlin College ein, um Geistlicher zu werden.
1883 schließt Mead das College ab und wird Lehrer, jedoch nur für vier Monate
Von 1883 bis 1986 arbeitet Mead als Vermessungsingenieur
1887 beginnt Mead das Studium in Harvard, wechselt dort von der
1891 nimmt Mead das Angebot an, Psychologie an der University of Michigan zu lehren; er trifft dort auf John Dewey und Charles Horton Cooley
1894 wechselte Mead zusammen mit Dewey an die 1892 gegründete University of Chicago, an der er bis zu seinem Tode lehrt.
Am 26. April 1931 starb Mead.
(vgl. http://userpage.fu-berlin.de/~wenzelha/Folien_290102.pdf)

Nach G.H. Mead ist die Identität des Menschen nicht von Geburt an vorhanden, sondern entsteht innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses des jeweiligen Idividuums (vgl. Mead, 1973, S. 177).

Als Kind tritt man anfangs nur mit einer einzelnen Person oder mit sehr wenigen primären Bezugspersonen in Kommunikation und Interaktion. Durch den vermehrten Kontakt mit unterschiedlichen Personen, lernt der Mensch sich von außen, das heißt aus der Sicht der anderen Personen, zu betrachten und deren Rollenerwartungen an die eigene Person wahrzunehmen. Er lernt also sich selbst so wahrzunehmen, wie es andere tun würden. Mead beschreibt die Entwicklung des Selbst so:

Der Einzelne erfährt sich – nicht direkt, sondern nur indirekt – aus der besonderen Sicht anderer Mitglieder der gleichen gesellschaftlichen Gruppe oder aus der verallgemeinerten Sicht der gesellschaftlichen Gruppe als Ganzer, zu der er gehört. Denn er bringt die eigene Erfahrung als eine Identität oder Persönlichkeit nicht direkt oder unmittelbar ins Spiel, nicht indem er für sich selbst zum Subjekt wird, sondern nur insoweit, als er zuerst zu einem Objekt für sich selber wird, genauso wie andere Individuen für ihn oder in seiner Erfahrung Objekte sind; er wird für sich selbst nur zum Objekt, indem er die Haltung anderer Individuen gegenüber sich selbst innerhalb einer gesellschaftlichen Umwelt oder eines Erfahrungs- und Verhaltenskontextes einnimmt, in den er ebenso wie die anderen eingeschaltet ist. (Mead, 1973, S. 180)

Dazu schrieb Ahrbeck:

„Je mehr das Kind mit mehreren […] in Kommunikation tritt, desto mehr wird sich das einstellen, was Mead als zentrales Entwicklungsziel angibt: das „vollständige Selbst“.“ (Ahrbeck, 1997, S. 35) Für die Beschreibung des „vollständigen Selbst“ spielen bei Mead zwei Begriffe eine besondere Rolle: Das „I“ und das „me“. Zusammenfassend schreibt Schweitzer:

„Als „me“ bezeichnet Mead die Vorstellung von der Wahrnehmung der eigenen Person durch andere. Die durch Rollenübernahme erschlossene Sicht der anderen und schließlich der ganzen Gemeinschaft führt zu einer Selbstwahrnehmung, die durch gesellschaftliche Verhaltenserwartungen geprägt ist. Das „I“ dagegen stelle die aktiv-kreative Antwort des Idividuums dar, mit der es zwar ebenfalls auf eine durch Erwartungen definierte Situation reagiert, mit der es diese Situation zugleich aber von sich aus verändert. Als „me“ wird das Individuum von Konventionen geleitet, während es als „I“ für sozialen Wandel sorgt und seine Fähigkeit zu Neuschöpfungen zeigt.“ (Schweitzer, 1985, S. 29, zitiert in Ahrbeck, 1997, S. 36)

Durch die Aussage Schweitzers wird deutlich, dass der Einzelne nicht nur ein Anpassungsprodukt seiner Umwelt ist, sondern dass dieser auch auf sein soziales Umfeld verändernd einwirken kann. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 36)

Zu dem oben genannten möchte ich für das bessere Verständnis und der besseren Anschaulichkeit dieses Themas die Stufen der Identitätsbildung in Tabellenform darstellen. Allerdings möchte ich kurz die Begriffe „play“ und „game“ erläutern. Schon in der Übersetzung vom englischen ins deutsche wird klar, das „play“ kindliches Spiel und „game“ Wettkampf bedeutet. (http://userpage.fu-berlin.de/~wenzelha/Folien_290102.pdf, 9.12.2002):

Die Stufen der Identitätsbildung

Stufen der Identität Art der Rollenübernahme (Reiz) Freiheitsgrade der Rollenausführung (Reaktion)
„play“ „game“ Identität der erwachsenen Person
Übernahme der Rolle jeweils eines partikularen Anderen, d.h. mehrerer Anderer nur im zeitlichen Nacheinander Gleichzeitige Übernahme mehrerer Rollen Anderer, die einen funktionalen Zusammenhang bilden Übernahme der Rollenerwartungen des generalisierten Anderen, d.h. des gesellschaftlichen Funktionszusammen-hangs, die Phase des MICH (me)
Erfüllung der Rollenerwartung bzw. Rollenkonformität Erfüllung der Rollenerwartungen bzw. Rollenkonformität Erfüllung der Rollenerwartungen bzw. Rollenkonformität und Nichterfüllung/Non- Konformität (Abweichung und Kreativität), die Phase des ICH (I)

Ein anderer wichtiger Aspekt in Mead’s Theorie des Selbst ist die Sprache. Mead ist der Meinung, dass der Sprachprozess eine maßgebende Rolle in der Entwicklung der Identität einnimmt. Ahrbeck betont in diesem Zusammenhang explizit, dass Mead sich bei dem Begriff Sprache, auf die menschliche Lautsprache (1) bezieht. (vgl. Ahrbeck 1997, S. 35)
Die Sprache ist ein Instrument, mit dem wir unsere Erfahrungen mit anderen reflektieren und austauschen können. Das zeigt, dass durch die Sprache unsere Erfahrungen und Gedanken nicht auf das einzelne Individuum und die eigenen Introspektion beschränkt sind. Nach Ahrbeck bedeutet dies entwicklungspsychologisch, „dass ein Kind erst dann ein Selbst ausbilden kann, wenn die Sprache bereits entwickelt ist. Und umgekehrt: eine sich entwickelnde Sprache kann als Ausdruck der Entwicklung des Selbst angesehen werden.“ (Ahrbeck, 1997, S. 35)

Eine weitere Besonderheit der Sprache (gegenüber den Lauten der Tiere) ist, dass wenn wir ein bestimmtes Wort ausrufen (z.B. Feuer) nicht nur bei anderen eine bestimmte Reaktion auslösen (z.B. die der Flucht oder Angst), sondern auch bei uns selbst, sofern wir das Verhalten der Umwelt in uns hineinnehmen können. Wir können dann unser Verhalten (hier der Flucht) überdenken und eventuell auf das weitere Verhalten der Umwelt (andere Personen) durch die Übermittlung von Gesten einwirken. Diese Möglichkeit der Reflektion unseres Verhaltens unterscheidet uns maßgeblich von dem (Flucht-) Verhalten der Tiere. (vgl. Mead, 1973, S. 234)

Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Entwicklung der Sprache als Vorraussetzung und Folge der Identitätsentwicklung angesehen werden kann. Für Mead ist die Entwicklung von Geist und Denken, ohne die Sprache, unvorstellbar. (vgl. Mead, 1973, S. 235)

Auch ist Mead der Meinung, dass ohne die Sprache eine Selbstreflexion nicht möglich ist und die Sprache auch als Chance zur Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung sieht.
1.Es stellt sich die Frage, ob die Gebärdensprache der Gehörlosen genauso wie die Lautsprache dazu geeignet ist die Funktion der Selbstreflexion zu erfüllen. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 92)

(1) Meiner Meinung nach benutzt Ahrbeck den Terminus der „menschlichen Lautsprache“ (Ahrbeck, 1997 S. 35), weil einerseits Mead viele Beispiele des tierischen Verhaltens und der tierischen „Sprache“ (sofern man von Sprache reden kann) gibt und zum anderen die Gebärdensprache als Sprache und Kommunikationsform nicht in Meads Überlegungen mit eingeflossen ist.

Identitätstheorien: Identitätstheorie nach Lothar Krappmann

Lothar Krappmann bezieht sich ganz stark auf die Theorie des Selbst nach Mead. Er versuchte allerdings die Mängel in Meads und einigen anderen soziologischen Selbst- und Identitätstheorien aufzuarbeiten und zu verbessern bzw zu ergänzen.

Krappmann weist darauf hin, dass Mead in seiner Theorie des Selbst nicht genau genug darauf hinweist, was er unter dem Kern des Selbst versteht: Es wird bei G.H. Mead nicht recht klar, woher das „I“ seine Kraft bezieht, die Erwartungen der anderen so zu interpretieren, daß es seine Einmaligkeit in ihnen ausdrücken kann. (Krappmann, 1974, S. 134)

Krappmann unterscheidet zwischen gesellschaftlichen und individuellen identitätsfördernden Bedingungen. Unter gesellschaftlichen Bedingungen versteht er u.a. flexible Normensysteme, die es ermöglichen die eigenen Rollen neu- und umzuinterpretieren. Die individuellen Fähigkeiten werden bei Krappmann oft besonders hervorgehoben. Die Fähigkeit, sich in Interaktionsprozessen immer wieder neu definieren zu können, ist Vorraussetzung und Folge der Identitätsbildung. (vgl. Ahrbeck, 1997, S.37)

Als individuelle Fähigkeiten haben sich folgende vier herauskristallisiert, die ich auch noch weiter erläutern möchte:
1. Rollendistanz
2. „Role taking“ und Empathie
3. Ambiguitätstoleranz (und Abwehrmechanismen)
4. Identitätsdarstellung

1. Rollendistanz

Die erste Fähigkeit, die Krappmann beschreibt, ist die Rollendistanz. Unter Rollendistanz versteht er, daß das Individuum überhaupt in der Lage ist, sich Normen gegenüber reflektierend und interpretierend zu verhalten (Krappmann 1975, S. 133) Es ist auch von Bedeutung, sich selbst klar zu werden in welcher Rolle man sich gerade befindet und welche Rollenerwartungen die Umwelt an einen stellt. Wenn man dies erkennt, kann man die Rollenerwartungen überdenken, negieren, modifizieren und interpretieren. Eine Identitäsbildung kann kaum gelingen, wenn man sich ausschließlich den Rollenerwartungen anderer anpasst, oder sie überhaupt nicht beachtet bzw. wahrnimmt. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 38)

Rollendistanz kann nicht nur als Voraussetzung für die Identitätsgewinnung angesehen werden, sondern wenn Rollendistanz auftritt, muss das Individuum die Ich-Identität schon in einem gewissen Maße erreicht haben. (vgl. Krappmann, 1974, S.137f.)

2. „Role taking“ und Empathie

Rollendistanz wird bei Krappmann als Vorraussetzung für das „Role taking“ angesehen. Unter dem Begriff „Role taking“ wird die Fähigkeit sich in andere Menschen und ihre Rollen hineinzuversetzen verstanden. Im allgemeinen wird diese Fähigkeit auch als Empathie bezeichnet. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 38)

Krappmann schreibt hierzu:

„Role taking“ ist ein Prozeß, in dem antizipierte Erwartungen ständig getestet und aufgrund neuen Materials, das der fortschreitende Prozeß liefert, immer wieder revidiert werden, bis sich die Interpretationen einer bestimmten Situation und ihrer Erfordernisse unter den beteiligten Interaktionspartnern einander angenähert haben. (Krappmann 1975, S. 145)

Ebenso wie bei der Rollendistanz, kann Empathie die Identitätsbildung fördern, setzt aber auch vorraus, dass schon ein Teil der Identität gebildet wurde:

Auch Empathie ist sowohl Vorraussetzung wie Korrelat von Ich-Identität. Ohne die Fähigkeit, die Erwartungen der anderen zu antizipieren, ist die Formulierung einer Ich-Identität nicht denkbar. Jedoch bestimmt auch die jeweils ausbalancierte Ich-Identität durch die Art, in der sie Normen und Bedürnisdispositionen aufgenommen hat, die Möglichkeit des „role talking“ mit: Die Ich-Identität, die das Individuum in einer bestimmten Situation errichtet, legt Grenzen fest, über die hinweg der Person „role talking“ schwerfällt. (Krappmann 1975, S. 143)

Ist die Ich-Identität durch vielfältige Rollenerfahrungen gelungen, fällt es dem Individuum leichter sich in Rollenerwartungen anderer hineinzuversetzen. Unangenehme Rollenerwartungen, die an das Individuum herangetragen werden, werden nicht gleich zu einer Bedrohung der Identität.
Tritt allerdings das Gegenteil ein und ist die Ich-Identität nur wenig ausgebildet, werden auch neue Rollenerfahrungen und Rollenerwartungen anderer kaum aufgenommen, aus Angst die eigenen Identität zu gefährden. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 39)

3. Ambiguitätstoleranz (und Abwehrmechanismen)

Unter Ambiguitätstoleranz versteht man die Fähigkeit, widersprüchliche Bedürfnisse auzuhalten. Durch die Rollendistanz und Empathie, lernt das Individuum neue und auch widersprüchliche Daten und Mitteilungen wahrzunehmen und selbst zum Ausdruck zu bringen. Die widersprüchlichen Erwartungen, stellen auch eine Belastung dar, weil die Erwartungen der anderen, den eigenen entgegengesetzt werden. (vgl. Krappmann, 1975, S. 150)

Für Krappmann hat die Ambiguitätstoleranz eine wichtige Bedeutung in der Identitäsbildung:

Die Ambiguitätstoleranz ist die, für die Identitätsbildung mutmaßlich entscheidendste Variable, weil Identitätsbildung offenbar immer wieder verlangt, konfligierende Identifikationen zu synthetisieren. Ohne sie ist ein Individuum nicht in der Lage, angesichts der in Interaktion notwendigerweise auftretenden Ambiguitäten und unter Berücksichtigung seiner Beteiligung an anderen Interaktionssystemen und einer aufrechtzuerhaltenden biographischen Kontinuität zu handeln. … Die Errichtung einer individuierten Ich-Identität lebt von Konflikten und Ambiguitäten. Werden Handlungsalternativen, Inkonsistenzen und Inkompatibilitäten verdrängt oder geleugnet, fehlt dem Individuum die Möglichkeit, seine besondere Stellung angesichts spezifischer Konflikte darzustellen. (Krappmann, 1975, S.40)

Zu Abwehrmechanismen kommt es, wenn die Ambiguitätstoleranz des Individuums in einer bestimmten Situation nicht ausreichend vorhanden ist oder wenn eine Situation so widersprüchlich ist, dass ein zu hohes Maß an Ambiguitätstoleranz gefordert wird. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 40)

Das Individuum kann sich den Schwierigkeiten auf zwei Arten entziehen. Im ersten Fall verdrängt es alle Widersprüche zwischen den Erwartungen anderer und den eigenen Bedürfnissen. Die eigenen Bedürfnisse werden übergangen, zurückgestellt oder modifiziert. (vgl. Krappmann, 1975, S. 155)

Im zweiten Fall gelten die Rollenerwartungen der anderen als nicht existent. Das Individuum beharrt alleine auf den eigenen Bedürfnissen. Die Rollenerwartungen werden nicht kritisch hinterfragt, sondern ihre Bedeutung wird einfach geleugnet. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 40)

4. Identitätsdarstellung

Die Selbstdarstellung der eigenen Identität ist sehr stark an den interaktionalen Zusammenhang gebunden und ist situationsabhängig. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 41)

Das Individuum ist bemüht seine eigene Identität darzustellen, geht aber über die konkrete Interaktion hinaus und streut noch weitere, für seine Person wichtige Informationen ein:

Das Individuum kokettiert mit Rollen, spielt mit ihnen, überdramatisiert sie und bringt auf all diesen Wegen ein Element von Fragwürdigkeit, von Ambivalenz und Distanz in sein Handeln, das dem Beobachter Anlaß ist zu prüfen, wie das, was sein Gegenüber tut, zu verstehen ist. (Krappmann, 1975, S. 170)

In schwierigen Situationen hilft es die Ich-Identität zu wahren, wenn das Individuum es schafft, die divergierenden Anforderungen, unterschiedlicher Rollenerwartungen nach außen hin darzustellen.
Auch die Fähigkeit, Identität zu präsentieren, ist Vorraussetzung und Folge der Ich-Identität zugleich. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 41)

Identitätstheorien: Identitätstheorie nach Erik H. Erikson

Wie in den beiden vorherigen Kapiteln werde ich auch hier eine Identitätstheorie vorstellen und zwar die aus psychoanalytischer Sicht Eriksons.

E.H. Erikson wurde 1902 in Deutschland, genauergesagt in Frankfurt, geboren. Lange Zeit trug er den Nachnamen Homberger, doch als er amerikanischer Staatsbürger wurde, änderte er seinen Namen auf Erik Erikson. Das Thema Identität durchzog sein eigenes Leben sehr stark. Sein biologischer Vater war Däne und seine Mutter war Jüdin. Einerseits wurde er in seiner Schule als Norde bezeichnet, andererseits wiederum als Jude. Erikson wollte Künstler werden. Später lehrte er dann Kunst und machte ein Zertifikat zum Montessori Lehrer. Er Lehrte u.a. an Yale und Harvard. Anna Freud kannte er persönlich und wurde von ihr therapiert. Auch wurde er beinflusst von Sigmund Freuds Theorien. E.H. Erikson starb 1994 im stolzen Alter von 92 Jahren.
(vgl. http://www.ship.edu/~cgboeree/erikson .7.1.2003)

Ein Kind bekommt ein erstes Gefühl von der eigenen Identität, wenn es sich klar wird, dass es ein Individuum ist d.h. wenn es merkt, dass es eigene Gedanken und Erinnerungen hat und sich so von seiner Umwelt abhebt. (vgl. Fachlexikon der Sozialen Arbeit, 1997, S. 479)

Im allgemeinen geht es bei Erikson darum, die Lebenserfahrungen die ein Mensch bisher gesammelt hat zu einem Gefühl der Einheit und Ganzheit zusammenzufassen. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 31)

Erikson entwickelte eine Entwicklungstheorie, die auf der Basis von Freuds Dreiphasentheorie ist, diese aber auf 8 Phasen erweitert.

1. Ur-Vertrauen gegen Ur-Mißtrauen

Die erste Phase ist gleichzusetzen mit der Freudschen oralen Phase und umfasst ca. das erste Lebensjahr.
Unter Ur-Vertrauen versteht Erikson eine auf die Erfahrung des ersten Lebensjahres zurückgehende Einstellung zu sich selbst und zur Welt… und weiter: Mit „Vertrauen“ meine ich das, was man im allgemeinen als ein Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens kennt, und zwar in bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverläsigkeit seiner selbst (Erikson, 1974, S. 62 zitiert in Ahrbeck, 1997, S. 43)

2. Autonomie gegen Scham und Zweifel

Diese Phase umfasst ca. das zweite und dritte Lebensjahr.
Thema dieser Stufe ist u.a. die Sauberkeitserziehung. Hier soll das Kind lernen, selbst über den Ausscheidungsvorgang zu bestimmen: Aus einer Empfindung der Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstwertgefühls entsteht ein dauerndes Gefühl von Autonomie und Stolz; aus einer Empfindung muskulären und analen Unvermögens, aus dem Verlust der Selbstkontrolle und dem übermäßigen Eingreifen der Eltern entsteht ein dauerndes Gefühl von Zweifel und Scham (Erikson 1974, S. 78f. zitiert in: Ahrbeck 1997, S. 44)

3. Initiative gegen Schuldgefühle

Im vierten und fünften Lebensjahr lernt das Kind sich seine Umwelt immer mehr durch die Sprache und die erweiterten Bewegungsmöglichkeiten zu erschließen. Psychoanalytisch wird hier die ödipale Phase angesprochen. Je nachdem wie die ödipale Konfliktsituation gelöst wird, gelingt es dem Kind, seine sozialen Ziele zu wählen und diese auch zu verfolgen oder es bleibt von Gefühlen der Schuld und Angst dominiert.

4. Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühle

Diese Phase umfasst den Zeitraum bis zur Pubertät und schließt auch die Schuljahre mit ein. Durch den Schulbesuch hat das Kind einen eigenen Lebensbereich gefunden und ist im Begriff sich diesen immer weiter zu erschließen. Ein teilweises sich Entfernen von den Eltern bleibt hier nicht aus. Wichtig ist in dieser Stufe, dass das Kind lernt, sich mit Gegenständen und Materialien auseinanderzusetzen und ein Gefühl der Nützlichkeit erwirbt. Werksinn und Minderwertigkeitsgefühl entwickelt sich in dem Maße, wie es dem Kind möglich wird dies umzusetzen.

5. Identität gegen Identitätsdiffusion

Mit Beginn der Adoleszens und Geschlechtsreife tritt eine Neuorientierung ein. Durch die Ablösung von den Eltern werden soziale Rollen und das eigene Selbstverständnis neu definiert.
Die Adoleszens ist ein schwieriger Lebensabschnitt, weil in ihr die Integrierung aller bisherigen Lebenserfahrungen im Sinne der Ich-Identität notwendig wird. Erikson schreibt hierzu:

Jene endgültige Identität also, die am Ende der Adoleszenz entsteht, ist jeder einzelnen Identifikation mit den Beziehungspersonen der Vergangenheit druchaus übergeordnet; sie schließt alle wichtigen Identifikationen ein, aber verändert sich auch, um aus ihnen ein einzigartiges und einigermaßen zusammenhängendes Ganzes zu machen. (Erikson 1974, S. 139 zitiert in Ahrbeck 1997, S. 45)

Die Ich-Identität kann erst entwickelt werden, so Eriksons Auffassung, wenn die vorherrschenden Konflikte in den jeweiligen Entwicklungsphasen bewältigt wurden. Ist dies nicht der Fall, ist eine Entstehung der sogenannten Identitätsdiffusion wahrscheinlicher.

Unter Identitätsdiffusion versteht Erikson die vorübergehende oder auch andauernde Unfähigkeit des Ichs eine Identität zu entwickeln (Ahrbeck 1997, S. 45).

In den drei vorligenden Phasen beschreibt Erikson die Entwicklungsstadien des Erwachsenenlebens, die sich an die Adoleszens anschließen. Diese Stufen sollen hier alledings nur genannt werden:

6. Intimität und Distanzierung gegen Selbstbezogenheit
7. Generativität gegen Stagnierung
8. Integrität gegen Verzweiflung und Ekel

Die Identitätsbildung bezieht sich auch auf die Lebensphasen. Die Adoleszens ist zwar das Stadium einer sichtbaren Identitätskrise, dies bedeutet aber nicht, daß die Identitätsbildung mit der Adoleszenz beginne oder ende: sie ist vielmehr eine lebenslange Entwicklung, die für das Individuum und seine Gesellschaft weitgehend unbewußt verläuft (Erikson 1974, S. 140f. zitiert in Ahrbeck 1997, S. 46)

Identitätsentwicklung und Gehörlosigkeit

In den folgenden drei Unterkapiteln möchte ich auf den Zusammenhang zwischen Gehörlosigkeit und Identität von den Theorien Meads, Krappmanns und Eriksons eingehen.
Ich beziehe mich ausschließlich auf die Ausarbeitung Ahrbecks (vgl. Ahrbeck ,1997), da er der einzig mir bekannte Autor ist, der die Identitätstheorien unter dem Gesichtspunkt der Gehörlosigkeit durchleuchtet hat.

Gehörlosigkeit und Identität in der Theorie Meads

Im Kapitel 2.1 dieser Arbeit, ist die Frage aufgekommen, ob die Gebärdensprache, genauso wie die Lautsprache, die Funktion der Selbstreflexion erfüllen kann.

Ahrbeck ist der Ansicht, dass die Gebärdensprache der Gehörlosen ein vollwertiges Symbol- und Kommunikationssystem ist. Mead ist der Meinung, dass das Individuum durch die Symbolbildung ein reflektierendes Verhältnis zu sich selbst gewinnen kann. Ahrbeck kommt daraufhin zu dem Schluss, dass die Gebärdensprache, ebenso wie die Lautsprache, es einem Individuum ermöglicht sich selbstreflexiv zu verhalten und das die notwendigen kommunikativen und kognitiven Leistungen auch mit Hilfe der Gebärdensprache erbracht werden können. (vgl. S. 93)

Die Annahme Meads, dass intelligentes Verhalten eine Lautsprachliche Symbolisierungsfähigkeit voraussetzt und eine differenzierte Kommunikation nur mit der Lautsprache möglich ist, ist kritisch zu relativieren. (vgl. S.93)

Gehörlose, die über eine differenzierte Lautsprache oder um entsprechende Kenntnisse in der Gebärdensprache verfügen, verfügen über die gleichen sprachlichen Voraussetungen für eine Selbstreflexion, wie Hörende. (vgl. S. 102)

Ein weiterer wichtiger Aspekt in Meads Theorie ist die Annahme, das sich Identität nur in Interaktion mit anderen bilden kann. Ein vollständiges Selbst wird nach Mead durch Kommunikation und Interaktion mit möglichst vielen Partnern entwickelt. Dies ist durch die eingeschränkte Anzahl an Kommunikationspartern, für Gehörlose schwer. (vgl. S. 102)

Auch vermögen gehörlose Kinder nur mit wenigen hörenden Bezugspersonen intensiv zu agieren. Durch die überwiegend lautsprachliche Kommunikation ist es kaum denkbar, dass das gehörlose Kind die Rollenerwartungen, in gleicher Weise wie bei einem Hörenden, erspüren und eigene Wünsche einbringen kann. Nach Mead ist dies für die Identitätsbildung unerlässlich. Ahrbeck betont, dass es nicht um den bloßen Austausch von Informationen geht, sondern dass es darum geht sich umfassend persönlich in Beziehungen einzubringen: Das Bedürfnis, personal in Erscheinung zu treten, besitzt für Menschen zentrale Bedeutung. Es ist dieses Bedürfnis für alle Menschen ein zentrales Bedürfnis. (Breiner 1986c, S. 72, zitiert in Ahrbeck, 1997, S.103)

Die Sprechstimme Gehörloser wirkt oftmals künstlich und macht so eine persönlichen Ausdruck nicht möglich. Breiner schreibt zusammenfassend:

Es ist nicht nur der zähe Informationsfluß, der die Gehörlosigkeit als Behinderung bestimmt, sondern es ist der Ausfall des Ausdrucks der Sprechstimme und damit das Fehlen der Möglichkeit, personal in seinem Sosein in Erscheinung zu treten.

Und weiter:

Eine Sprache ohne personalen Audruck ist eine Zwecksprache, die solange gebraucht wird, wie es unumgänglich ist; sie ist keine Muttersprache, weil die Begebnung von Person zu Person über das, was wir als personalen Ausruck bezeichnen, weigehend fehlt. (Breiner 1986c, S. 72, zitiert in Ahrbeck, 1997, S. 103)

Trotz der oben genannten Einschränkungen, ist es für Gehörlose möglich Identität zu bilden. Dies geschieht weniger im Verhältnis zu Hörenden, als im Verhältnis zu anderen Gehörlosen, da es dort keine Einschränkungen in den Kommunikationsmöglichkeiten gibt. (vgl. S.107)

Gehörlosigkeit und Identität in der Theorie Krappmanns

Mit der Rollendistanz, dem „role talking“ bzw. der Empathie, der Ambiguitätstoleranz und der Identitätsdarstellung nennt Krappmann vier identitätsfördernde Bedingungen, die erfüllt sein müssen. (vgl. S. 121)
Gehörlose entwickeln im Umgang mit Hörenden nur sehr eingeschränkt die notwendigen Fähigkeiten für eine Identitätsbildung. Als Problem zeigt sich hier die nicht umfassend entwickelte Lautsprache, ihre geringen personale Ausdrucksmöglichkeiten, sowie die Schwierigkeit, andere in ihrem personalen Ausdruck zu verstehen. (vgl. S. 121).

Den Gehörlosen fällt es schwer die Rollenerwartung Hörender umfassend wahrzunehmen und zu entschlüsseln, so ist es auch problematisch eine Rollendistanz zu entwickeln.
Ist die Rollendistanz nur eingeschränkt möglich, wird es für die Gehörlosen noch schwieriger sich im Sinne der Empathie, in die Rollen des anderen hineinzuversetzen.

Ein hohes Ausmaß an Ambiguitätstoleranz ist nötig, um den Belastungen einer tiefergehenden Kommunikation mit Hörenden gewachsen zu sein. Schon von den Anforderungen aus kommunikativer Sicht, dürfte dies für Gehörlose häufig nicht möglich sein.
Im Sinne Krappmanns ist die Identitätsdarstellung gleichbedeutend sich in seiner Einzigartigkeit zu präsentieren ohne einen Aspekt des Selbstes zu verleugnen. Die Identitätsdarstellung ist an so hoch differenzierte lautsprachliche Fähigkeiten, personale Ausdrucksmöglichkeiten und an ein so kunstvoll ausgestaltetes Rollenspiel gebunden, daß Gehörlose über diese Fähigkeit […] im Umgang mit Hörenden in der Regel nicht verfügen dürften. (Ahrbeck, 1997, S. 122)

Die Theorie Krappmanns als auch Meads sind so stark auf die uneingeschränkte und umfassende Fähigkeit zu kommunizieren aufgebaut, dass diese Fähigkeiten von Gehörlosen kaum erreicht werden können.
Die Identitätsentwicklung ist auch in der Theorie Krappmanns im Umgang von Gehörlosen mit Hörenden nicht vorstellbar.
Nur in der Gehörlosengemeinschaft ist eine erfolgreiche Identitätsbildung Gehörloser möglich, da sich im Sinne Krappmanns nur dort Identität entwickeln kann, wo uneingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten gegeben sind. (vgl. S.122)

Gehörlosigkeit und Identität in der Theorie Eriksons

Obwohl der Umweltbezug von gehörlosen Kindern von Anfang an eingeschränkt ist, zeigt sich dieses Faktum, unter dem psychischen Aspekt, für die Gesamtentwicklung noch nicht entscheidend.
Das Kind lebt zuer in einem diffusen Umweltbezug und hat noch kein Gefühl einer Selbst-Objekt-Trennung.
Ein Mangel an Sprache bzw. Lautsprachen hat auch zu Beginn der Individuation keine entscheidende Bedeutung.
Ahrbeck betont, dass bei gehörlosen Kindern, ein gestörtes Urvertrauen nicht unbedingt anzunehmen ist. Erst die Gesamtheit von Erfahrungen mit der Umwelt ist entscheidend für die Entwicklung des gehörlosen Kindes. (vgl. S. 189)

Vom zweiten Lebensjahr an stellen sich Schwierigkeiten in der Entwicklung ein, wenn keine ausreichenden Kommunikationsmöglichkeiten zwischen dem gehörlosen Kind und der primären Bezugsperson gegeben sind. Die kognitive aber auch die sozial-emotionale Entwicklung des gehörlosen Kindes wird erschwert.
Erikson ist der Ansicht, dass wenn die frühen Entwicklungsphasen nicht oder nur eingeschränkt bewältigt werden, das negative Auswirkungen auf die späteren Entwicklungsaufgaben des Gehörlosen hat.
Ahrbeck merkt an, dass die Einschränkungen hauptsächlich auf der kommunikativen Ebene liegen, aber auch die Reaktionen der sozialen Umwelt können sich entwicklungsbehindernd auswirken. (vgl. S. 189)

Laut Erikson wird im günstigsten Fall in der Adoleszenz die Erfahrungen der einzelnen Entwicklungsabschnitte zu dem Gefühl der Identität zusammengefasst.
Ahrbeck schreibt erklärend:
Obgleich sich gehörlose Kinder auf der Sachebene in verschiedenen Lebensphasen und Tätigkeitsfeldern, wie zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit Werkstoffen in Eriksons Phase der Entwicklung des Werksinnes, als sehr tüchtig erweisen können, bleibt insgesamt festzuhalten: Im Umgang mit Hörenden gelingt es Gehörlosen selbst bei bekannten Personen nur eingeschränkt, ein Gefühl von Einheitlichkeit und Kontinuität zu entwickeln und dieses Gefühl anderen Personen so zu verdeutlichen, wie es von Erikson für eine Identitätsbildung gefordert wird. Fremden hörenden Personen gegenüber ist dies weitgehend unmöglich. (vgl. S. 189f.)

Auch bei der Theorie Eriksons wird darauf hingewiesen, dass ein Gefühl der Einheitlichkeit und Kontinuität und das Vertrauen eine überschaubare Zukunft bewältigen zu können, Gehörlose nur in einer Umgebung erfahren können wo eine umfassende und unbeschwerte Kommunikation möglich ist.

Die Integration in die Welt der Hörenden, im Sinne der Identitätsbildung Eriksons ist nur ansatzweise, also unzureichend zu bewältigen. (vgl. S. 190)

Schlussbemerkung

Zum Schluss möchte ich noch kurz ein paar kritische Anmerkungen machen.

In dem Begriff des Selbst, blendet Mead zentrale Aspekte des menschlichen Seins aus und zwar die Emotionalität und die Triebseite. Somit ist es für Ahrbeck fraglich ob es einen in einem umfassenderen Sinne als auch emotionales Wesen aufgefaßten Menschen gelingen kann, sich in der von Mead gedachten Weise in die Gemeinschaft aller zu integrieren und ein Selbst zu entwickeln. (Ahrbeck, 1997, S. 108) Ahrbeck sieht dies als sehr schwierig an.

Krappmann bemängelt bei Mead, dass er nicht richtig klar macht, was der Kern des Selbst ist. Es wird nicht deutlich, worin die Fähigkeit des Individuums besteht, das „I“ und das „Me“ zu einem Selbst zu integrieren. (vgl. Ahrbeck, 1997, S. 110)

Krappmann fasst diese Problematik auf, allerdings geht er auch sehr stark auf die unmittelbare Interaktion und den Auslgeich eigener und fremder Interessen und Bedürfnisse. Nur am Rande wird die Bedeutung bestimmter Interaktionsparter z.B. der primären Bezugsperson erwähnt. (vgl.Ahrbeck ,1997, S. 123)

Laut Ahrbeck mangelt es dem Identitätsbegriff von Erikson noch an Präzisierung. Jacobsen schreibt hierzu:

Erikson scheint den Begriff „Ich-Identität“ sehr weit, in der Tat allzu weit zu fassen: er läßt ihn „im jeweiligen Zusammenhang für für sich selbst sprechen“ … und bezieht ihn auf „ein bewußtes Gefühl der individuellen Identität“ oder auf „ein unbewußtes Streben nach einer Kontinuität des persönlichen Charakter“ oder auf ein „Kriterium der stillschweigenden Akte Ichsynthese“ oder auch auf das „Festhalten der inneren Solidarität mit den Idealen und der Identität einer Gruppe“ (Jacobsen 1978, S. 37, zitiert in Ahrbeck, 1997, S. 190)

Mich persönlich überrascht hat, dass alle Theorien in Verbindung mit Identität und Gehörlosigkeit zu dem Schluss kommen, dass Gehörlose Identität nur bruchstückhaft oder kaum in Interaktion mit Hörenden erwerben können. Sehr deutlich geworden ist, dass dies nicht heißt, das Gehörlose keine Identität bilden, sondern ihre Identität vermehrt in der Gehörlosengemeinschasft mit Hilfe der Gebärdensprache als Symbol- und Kommunikationssystem erwerben.

Ich persönlich komme zu der Überzeugung, dass wenn Identität sich aus allen gemachten Erfahrungen bildet sowohl Hörende als auch Gehörlose Individuuen eine Identität entwickeln. Denn jeder Mensch macht Erfahrungen. Welcher Art und wie sich diese auswirken, muss meiner Meinung nach vermehrt Individuell begutachtet werden.

Zum endgültigen Abschluss dieser Arbeit möchte ich ein Gedicht der hochgradig schwerhörigen Sibylle Gurtner anführen und dieses auch unkommentiert stehen lassen.

Ich bin
In mir
Sind viele liebende
Zwei traurige
Mehrere gewöhnliche
Einzelne strahlende
All diese Wesen
Sind mich und ich bin sie alle
Nacheinander
Gleichzeitig
Kreuz und quer

Literaturverzeichnis

Ahrbeck, Bernd (1997): Gehörlosigkeit & Identität, Hamburg

Erikson, H. Erik (1975): Dimensionen einer neuen Identität, Frankfurt a.M.

Joas, Hans (1997): Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M.

Krappmann, Lothar (1975): Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart

Mead, Georg H. (1973): Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M.

http://userpage.fu-berlin.de/~wenzelha/Folien_290102.pdf (9.12.2002)

http://www.ship.edu/~cgboeree/erikson (7.1.2003)

 

Janina Köck

Studium der Sozialpädagogik an der FH Fulda von 2001 bis 2005 mit den Schwerpunkten: "Psychosoziale Beratung und Gesundheitsförderung" sowie "Heil- und Behindertenpädagogik". Zusätzliche Tätigkeit als Tutorin (+ halten von Vorlesungen) in den Vorlesungen Rhetorik, Teamtechnik und angewandte Sozialpsychologie. Journalistische Tätigkeit für den Fernstudiengang Sozialkompetenz und Leitung eines genderspezifischen Internet Projektes mit Jugendlichen für das Land Rheinland Pfalz. Danach von 2005 bis 2007 Gruppen- und Einzelbetreuung von Mädchen zwischen 14-21 Jahren im Betreuungsverbund St. Irmgardis in Krefeld. Seit 2008 freiberuflich tätig in meiner Praxis Leben im Einklang in Köln mit den Schwerpunkten psychologische Beratung, körperorientiertes Coaching, Homöopathie uvm.

Kommentar (1) Schreibe einen Kommentar

  1. Hallo,

    ich wollte nur wissen, ob Krappmann das Role-Making oder das Role-Taking betont,
    also wonach richtet das Individuum sich eher?

    lg Philipp

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