Armut und Krankheit

Referat Armut und Krankheit, vorgelegt am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Fulda

Ernährung: Funktionen von Essen als Basisbedürfnis

Ernährung dient einem fundamentalen menschlichen Basisbedürfnis; sie ist die Voraussetzung für Gesundheit und Entwicklung. Eine hinreichende Ernährung wird in den modernen Wohlstandsgesellschaften auch den Armen zugestanden. „Sich gesund und zureichend“ ernähren zu können, wird von 97 Prozent der deutschen Bevölkerung als Bestandteil des „notwendigen Lebensstandards“ angesehen. Immerhin sind auch 95 Prozent der Bevölkerung der Auffassung, dass allen Menschen mindestens eine warme Mahlzeit am Tag zusteht, wie arm sie auch sein mögen (Lipsmeier 2000).

Funktionsvielfalt

Ernährung erfüllt aber nicht nur das Bedürfnis der körperlichen Existenzerhaltung. Es gibt wohl kaum einen Bereich im menschlichen Leben, in dem natürliche und soziale Bedürfnisse des Menschen enger und vielfältiger verzahnt sind als in dem der Ernährung. Eine vorrangige und ausschließliche Beschreibung der Ernährung in ihren materiell-biologischen Funktionen ist unzulänglich.

Kommunikative Funktion von Ernährung

Ernährung hat immer auch soziale, kulturelle und psychische Funktionen. Nahrung ist ein wichtiges Ausdrucksmittel für soziale Beziehungen und Kommunikation. Die Bedeutung der kommunikativen Funktion von Essen wird von gut situierten Personen außerordentlich hoch geschätzt. Sich zum Essen zu verabreden ist oft ein Anlass, soziale Kontakte zu pflegen bzw. „wichtige Dinge zu besprechen“.
Erfüllt sich ein Sozialhilfeempfänger den Wunsch nach Geselligkeit, indem er mit jemandem „Essen geht“, hat das anschließend vorrangig negative Konsequenzen für sein Budget. Besuch zu empfangen, scheitert vor allem in Haushalten, die schon lange arm sind, häufig daran, dass man sich des Zustandes der Wohnungseinrichtungen schämt.
Da man dem Gast ebenso häufig auch nichts Adäquates anbieten kann, liegt es nahe, lieber niemanden einzuladen. Familien mit Kindern leisten sich zuweilen den Besuch in einem Fast-food-Restaurant. Die Befriedigung sozialer und psychischer Bedürfnisse in Bezug auf Essen und Trinken kostet somit Geld, das Sozialhilfeempfänger nicht haben.

Zudem können durch Nahrung und Essen Selbstwertgefühl und emotionale Sicherheit erzeugt werden, gleichermaßen Ängste und Schuldgefühle. Das konkrete Essverhalten ist in hohem Maße anfällig für soziale Beeinflussungen, für soziale Normen und kulturelle Regeln.

Gesundheitliche Funktion von Ernährung

Bei der Beurteilung, ob die Ernährung gesundheitsfördernd ist oder nicht, muss eine sehr breite Kette unter den spezifischen Bedingungen der jeweiligen Lebensweise beurteilt werden:

  • Beschaffenheit des Nahrungsmittelangebots
  • Ausgaben für Nahrungsmittel
  • Zusammensetzung und Qualität der erworbenen Nahrungsmittel
  • Verwendung der Nahrungsmittel und ihre Verteilung innerhalb des Haushalts
  • Nahrungsverbrauch, Nährstoffzufuhr und Stoffwechselfunktion

Dazu gehört auch die Betrachtung der biochemischen und anthropometrischen Parameter, die die Entstehung von ernährungsbezogenen Erkrankungen begünstigen oder sogar verursachen können und die als Risikomarker dienen.
Wichtigste Merkmale einer weniger gesundheitsförderndenrnährung sind erstens eine dem körperlichem Bedarf nicht entsprechende, überhöhte Energiezufuhr, die für den Risikomarker Übergewicht verantwortlich gemacht wird; zweitens eine einseitige, unausgewogene Ernährung, im besonderen ein hoher Anteil an gesättigten Fetten als Risikofaktor für eine Vielzahl von Erkrankungen, das Fehlen von Ballaststoffen sowie frischem Obst und Gemüse, die das Risiko zahlreicher Erkrankungen senken.
Dies ist z.B. bei Obdachlosen nicht möglich, da sie oft in Bahnhofsmissionen oder ähnlichem gehen und dort die Restesuppe in Anspruch nehmen, um überhaupt mal etwas warmes zu essen. Teilweise fragen sie auch in Restaurant, bei Bäckern oder Metzgern nach Resten.

Bei Obdachlosen kommen auch noch Kriterien hinzu wie:

  • Unregelmäßigkeit
  • Unausgewogenheit/Einseitigkeit
  • Qualitative Minderwertigkeit
  • Unappetitliches Essen (Resteessen), zum Teil wiederholt aufgekocht, zum Teil „unpassend zusammen gemischt“.
  • Der Verzehr warmer Mahlzeiten ist deutlich seltener als sonst in der Bevölkerung üblich
  • Ernährung steht häufig „in Konkurrenz“ zum Alkohol

Einige der ernährungsbedingten Krankheiten entstehen durch eine Unterversorgung mit bestimmten Ernährungskomponenten, andere durch eine Überversorgung, die der Körper nicht mehr durch Ausscheidungsverhalten oder Anpassung von Hunger und Appetit regulieren kann.
Hier einige Beispiele:

  • überhöhte Energiezufuhr, auf die gemeinhin das Entstehen von Übergewicht Reduziert wird
  • Fette, allgemein als Hauptquelle der überhöhten Energiezufuhr identifiziert, sowie im speziellen tierische Fette mit einem hohen Anteil an gesättigten Fettsäuren als Risikofaktor besonders für Herz-Kreislauf-Krankheiten
  • Getreideprodukte, Obst und Gemüse, insbesondere als Quelle für Ballaststoffe und andere protektive Inhaltsstoffe, die das Risiko zahlreicher Erkrankungen senken sollen
  • Ein Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen, der sowohl unmittelbar als auch verzögerte Krankheitsfolgen haben kann (z.Bei Mangel bestimmter Bitamine ein erhöhtes Krebsrisiko, bei Caliummangel ein erhöhtes Risiko, an Osteoporose zu erkranken, Anämie (Blutarmut), verminderte geistige und körperliche Leistungsfähigkeit sowei Immundefzite bei Eisenmangel)
  • Ein eher abträgliches Überangebot an bestimmten Stoffen bzw. ein Mangel an Nahrungsinhaltsstoffen (Zucker und Fluor bei Karies, Vitamin C bei Rauchern) oder die Zufuhr von Schadstoffen, die bei bestimmten Zubereitungsarten entstehen (z.B. die krebserregenden Stoffe Nitrosamin und Benspyren bei Pökeln und Heißräuchern von Fleisch, verstärkt durch das Zubereiten auf dem Holzkohlegrill).

Ernährungsarmut und Ernährungsrisiken

Haushalte mit geringem Einkommen schränken sich in Bezug auf regelmäßig konsumierte Nahrungsmittel in charakteristischer Weise ein. Insbesondere wird der Kauf teurer Nahrungsmittel, wie das empfohlene Frischobst und –Gemüse deutlich reduziert.

Zunächst belegen Haushaltsbudget-Studien eine Verringerung aller Ausgaben für Lebensmittel und eine veränderte Zusammensetzung der erworbenen Nahrungsmittelgruppen bei geringem Einkommen. Einerseits steigt der prozentuale Anteil dieses Postens am Gesamtbudget, andererseits verringern sich die absoluten Ausgaben.
Schon auf der Stufe des Einkaufs wird deutlich, dass Personen aus armen Haushalten in der Wahl einer gesundheitsfördernden Ernährung eingeschränkt sind. Eine als gesundheitsfördernd empfohlene Ernährung wie die Vollwerternährung ist auch bei sparsamstem Einkauf teurer als die nach Sozialhilfesatz möglichen Einkäufe (Becker u.a. 1995).
Außerdem ist der schon in der Mehrheitsbevölkerung zu findende Minderverbrauch an Frischobst und Gemüse bei einkommensschwachen Haushalten besonders ausgeprägt. Hier treffen also für eine große Anzahl von Personen mit niedrigem Einkommen die Risiken, die sich aus mangelnder Gesundheitsinformation ergeben, mit einem verminderten Einkommen sowie mit dem in armen Wohngebieten oft unzureichenden Lebensmittelangebot zusammen.

Arme Haushalte weichen häufig auf Lebensmittel aus, die vielfach eine schlechtere ernährungsphysiologische Qualität aufweisen, d.h. höheren Fett- und Zuckergehalt, weniger komplexe Kohlenhydrate aufweisen. Lebensmittel werden vor allem unter dem Blickwinkel zu sparen gekauft. Außerdem werden mit wachsenden finanziellen Engpässen einzelne Mahlzeiten im Umfang reduziert oder ganz ausgelassen, weil die notwendigen Lebensmittel bzw. Haushaltsvorräte nicht mehr vorhanden sind und nicht beschafft werden können. Typischerweise sind solche Einschränkungen nicht durchgängig der Fall, sondern eher periodisch, d.h. jeweils dann, wenn das Haushaltsgeld zur Neige geht.
Übliche nationale Empfehlungen für die Energie- und Nährstoffzunahme können nicht eingehalten werden. Allerdings dürfen solche Abweichungen von nationalen Ernährungsempfehlungen nicht notwendigerweise als Anzeichen fehlenden Ernährungswissens oder –bewusstseins verstanden werden. Auch Arme sind bemüht, sich selbst und vor allem ihre Kinder möglichst gesund zu ernähren.

Arme leiden unter dem Verlust ihrer normalen Mahlzeitenmuster und Versorgungsweg mehr als unter der materiellen Einschränkung der Ernährung. Als starke Belastung auf der Haushaltsebene wird vor allem die Sorge empfunden, woher sie die nächste Mahlzeit bekommen sollen. Belastend ist außerdem das Gefühl, von anderen abhängig zu sein. Geradezu quälend ist für viele, wenn Lebensmittelhilfe und Suppenküchen als Nahrungsmittel genutzt werden müssen. Dies wird von den Betroffenen in der Regel als demütigendes Betteln erlebt.
Aber selbst wenn eine ausreichende Ernährung durch Ausweichen auf billigere Lebensmittel noch sichergestellt werden kann, belasten dennoch die Einschränkung der Wahlfreiheit und die Reduzierung der sozialen Ernährungsqualität. So müssen statushohe durch statusniedrigere Lebensmittel ersetzt werden. Beispielsweise müssen Braten durch Hackfleisch oder Fleisch durch Hülsenfrüchte ersetzt werden. Außerdem muss an solchen Nahrungsmitteln gespart werden, deren Status zwar nicht besonders hoch ist, die aber einen hohen sozialen und emotionalen Gehalt haben. Zu dieser Kategorie zählen beispielsweise Alkoholika und Nahrungsmittel mit hohem Zuckeranteil (Kuchen, Süßigkeiten, süße Desserts), die mit Freude und festlichen Anlässen assoziiert sind.

Psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Männern

Die überwiegende Mehrzahl obdachloser Männer haben im Laufe ihres Lebens mindestens eine Episode psychischer Erkrankung erlebt, ¾ weisen eine psychische Erkrankung zum Zeitpunkt der Untersuchung auf.

Allein stehende wohnungslose Männer sind damit eine soziale Randgruppe, die im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung eine sehr große Häufigkeit psychischer Erkrankungen aufweist. Sehr viele dieser Menschen leiden an weiteren psychischen Erkrankungen. Herausragend viele an einer Psychose als der schwersten Form psychischer Erkrankungen.
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Den hohen Erkrankungsraten steht dabei eine geringe Inanspruchnahme medizinisch-psychiatrischer Dienste durch die Wohnungslosen gegenüber. Lediglich 27,6 % der Münchner Wohnungslosen waren jemals im Leben in stationärer psychiatrischer Behandlung.
Für 1996 schätzte die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe in Deutschland eine Zahl von 930.000 „Wohnungsnotfällen“, von denen etwa 200.000 Einpersonenhaushalte sind und 35.000 direkt auf der Straße leben.11 Die Studien zeigen, dass die überwiegende Mehrzahl der Wohnungslosen an psychischen Störungen leiden und damit nicht nur wohnungslos, sondern wohnungslos und psychisch krank sind. Die extreme Lebenssituation Wohnungslosigkeit ist somit bei einer großen Zahl der Betroffenen mit einer oder häufiger mehreren psychischen Störungen und den bei den harten Lebensbedingungen auch gehäuften körperlichen Beschwerden verbunden. Patienten mit Suchterkrankungen tragen dabei das größte Risiko der Wohnungslosigkeit. Vor allem stationär behandelte abhängigkeitskranke Männer sind gefährdet keinen privaten Wohnsitz zu haben.

Arten der Erkrankung und ihre besonderen Erscheinungsmerkmale bei Wohnungslosen

Bei der Darstellung der Art der psychischen Erkrankungen möchte ich auf eine detaillierte medizinische Beschreibung der einzelnen Krankheitsbilder verzichten, die ich in diesem Zusammenhang auch nicht für entscheidend wichtig halte. Ich werde mich auf die gerade für Wohnungslose besonderen Erscheinungsmerkmale und Zusammenhänge beschränken. Mein Ziel ist es darzulegen, wie Erscheinungsmerkmale der Erkrankung, die Angebote an Hilfsmöglichkeiten und die besonderen Lebensbedingungen in der Wohnungslosigkeit einen für den Wohnungslosen verhängnisvollen Teufelskreis bilden können.

Psychosen

Psychose ist der Oberbegriff für tief greifende seelische Krankheiten. Es ist ein unscharfer nicht exakt definierter Oberbegriff für eine ganze Reihe seelischer Krankheiten, bei denen die Beeinträchtigung psychischer Funktionen ein solches Maß erreicht hat, dass dadurch Einsicht und Fähigkeit gestört sind, einigen der üblichen Lebensanforderungen zu entsprechen. Besondere Kennzeichen sind dabei: eingeschränkter Realitätsbezug, mangelhafte Verstehbarkeit, mangelnde Kommunikationsfähigkeit, vorhandene Krankheitsuneinsichtigkeit und mangelnde Fähigkeit zur sozialen Anpassung.

Als Tatsache ist zunächst festzustellen, dass ein großer Teil wohnungsloser psychisch Kranker das etablierte Gesundheitssystem inadäquat, nicht fachspezifisch und/oder erst in Notfallsituationen in Anspruch nimmt. Dieses ungünstige Verhalten ist bei Alleinstehenden und bei psychisch mehrfach Erkrankten besonders ausgeprägt.
Ursachen dafür liegen im Zusammenspiel von Krankheitssymptomen und Zugangsvoraussetzungen für die Aufnahme in viele psychiatrische Institutionen.
So wird vielfach das Eingeständnis psychisch krank zu sein in Wohneinrichtungen konzeptionell als Aufnahmevoraussetzung verlangt. Nun ist aber gerade mangelnde Krankheitseinsicht, wie oben festgestellt, ein Kennzeichen der psychischen Erkrankung. Es ist ein paradoxes Phänomen, dass der Grund für die Aufnahme (psychische Krankheit mit dem Symptom mangelnder Krankheitseinsicht) ein Grund für die Ablehnung ist.

Ein weiterer Ausgrenzungsmechanismus sind die hoch angesetzten persönlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten, die in vielen Institutionen von den Klienten erwartet werden. Es werden Motivation, das Leben positiv selbst gestalten zu wollen und ein Mindestmaß an Einhaltung von Spielregeln erwartet. Die Symptome „eingeschränkter Realitätsbezug, mangelhafte Verstehbarkeit, mangelnde Kommunikationsfähigkeit und mangelnde Fähigkeit zur sozialen Anpassung19“ machen gerade das zu einer fast unmöglichen Anforderung für viele Betroffene.
Die Folge ist, dass viele Erkrankte ohne oder mit geringer/gelegentlicher medizinischer Versorgung leben. Sie kommen dann häufig nur in akuten Notfällen mit psychiatrischen Einrichtungen in Kontakt.
Gerade in diesen Notfällen werden sie oft dann damit konfrontiert, dass die Psychiatrie nicht nur Anbieter psychiatrischer Dienstleistungen ist, sondern auch Ordnungsinstanz und/oder Schutzinstanz für die Allgemeinheit. Gesetzliche Voraussetzungen verlangen ein genaues Potential an Fremd- und Eigengefährdung. Aber auch hier gibt es Ermessensspielräume. Zwangsbehandlung und -einweisung sollten Ausnahmesituationen darstellen, da sie von den Betroffenen als besonders traumatisch erlebt werden. Es wird aber sehr unterschiedlich mit diesen Kriterien verfahren. Regional unterschiedliche Angebotsstrukturen und Möglichkeiten der Unterbringung bestimmen oft die Art der Reaktion mit. Davon hängt es dann für den Erkrankten ab, ob er mit einer Zwangseinweisung konfrontiert wird oder nicht. Diese Erfahrung ist für diesen Teil der Betroffenen wenig einladend, später freiwillig mit der Psychiatrie Kontakt aufzunehmen. Dementsprechend ist die Zahl der psychisch Kranken, die nur zwangsweisen Kontakt mit der Psychiatrie hatten und sich in Wohnungslosigkeit befinden sehr hoch.
Menschen mit psychotischen Erkrankungen brauchen auf Grund ihrer Symptome eine reizberuhigte, individuelle Unterstützung und Hilfe. Sie muss ihnen die Möglichkeit zum sozialen Rückzug und zur Begrenzung der sozialen Kontakte ermöglichen. Standardmäßig werden aber gerade diese Menschen mit extrem Reiz stimulierenden Notaufnahmestationen psychiatrischer Kliniken oder hoher sozialer Dichte innerhalb von Wohngemeinschaften konfrontiert. Es liegt nahe, dass unter diesen Bedingungen eher die robusteren der psychisch Kranken eine Perspektive finden, die empfindlicheren sind damit überfordert.
So tauschen in den 72er Einrichtungen im wesentlichen zwei Typen von Klienten auf.
Einmal solche, die neben der Grunddiagnose „Psychose“ mit der Zusatzdiagnose „querulatorisch“ versehen werden.
Zum anderen sind es erstaunlicher weise gerade Personen, die als eher still zu bezeichnen sind. Es sind Menschen, zu denen auch nach intensivster Beziehungsarbeit kaum Zugang zu finden ist. Sie leiden zwar, sind aber noch nicht mal in der Lage ihren Leidensdruck zu artikulieren – eine Grundvoraussetzung für jede Beziehungsarbeit.
Psychisch kranke Wohnungslose sind zu beschreiben als eine Gruppe, die auf Grund der spezifischen Krankheitssymptome sehr spezielle Bedürfnisse haben. Sie reagieren teilweise sehr sensibel auf ihre Umgebung. Auf ihre – im wesentlicher krankheitsbedingten – Bedürfnisse auf Rückzugsmöglichkeiten, ihre Einsichtsfähigkeit und Möglichkeiten zur Lebensveränderung werden in vielen psychiatrischen Einrichtungen nicht ausreichend berücksichtigt.
Sie sind eine Gruppe, die mit den klassischen psychiatrischen Methoden kaum zu behandeln ist.

Alkohol und psychische Krankheiten

Alkoholgenuss ist bei Wohnungslosen auch eine Bewältigungsstrategie. Das Trinken ist zu verstehen, als symbolischer Ausdruck sozialer Verbundenheit und einer Solidargemeinschaft in Notlagen, deren Trinkregeln zur Bewältigung ihrer Alltagssituationen sinnvoll erscheint. Die Betroffenen bewegen sich in einem tragischen Kreislauf des Mittels Alkohol zur Aufnahme von Beziehungen und dem Ertragen von Elend und den negativen sozialen und individuellen Folgen des Alkoholkonsums/-missbrauchs.
Die Einsicht ich ihre Alkoholgefährdung ist für die besonders schwierig, die gezwungen sind in einem Milieu zu leben, das den Missbrauch von Alkohol unterstützt; in dem der Alkohol zur Pflege der Beziehungen (fast) unerlässlich ist. Führt man sich diese Funktion vor Augen, so ist bei Wohnungslosen der Alkohol nicht dysfunktional. Er ist vielmehr funktional hinsichtlich der Lebenssituation und das Trinken führt nicht zum Konflikt mit der direkten Lebensumwelt, sondern fördert die Integration.
Der Alkohol hat bei Wohnungslosen auch die Funktion einer Selbstmedikation.
Ein Großteil dieser Menschen hat Phasen im Leben durchlebt, in denen sie äußerst irritierbar und voller Angst gewesen sind.

Sie haben den Alkohol als eine Art Selbstmedikation gewählt. Unter Alkoholeinfluss sind sie ruhig, fast gelöst und entspannt, jedoch irritierbar, schreckhaft, hoch verängstigt, wenn der Alkohol fehlt. Das sind Symptome, die über reine Entzugserscheinungen weit hinausgehen. Gerade diese Komorbidität betrifft einen wesentlichen Teil der Wohnungslosen.

Deren besondere Lebenssituation ist gekennzeichnet von:

  • Wohnungs-, Arbeitslosigkeit;
  • sie haben keinen festen Partner;
  • sie sind weit gehend sozial isoliert;
  • kommen aus instabilen Familien und unteren sozialen Schichten;
  • erfahren so gut wie keine soziale Unterstützung;
  • haben mehr Suchtsymptome als andere;
  • haben mehr Folge- und Nebenerkrankungen;
  • haben mehr psychische Defizite;
  • haben weniger lange Abstinenzperioden;
  • verfügen über reichlich negative Institutionserfahrungen,
  • scheuen den Kontakt zur ambulanten Suchtberatung.

Insgesamt lässt sich bei Wohnungslosen eine Suchtproblematik, insbesondere Alkoholmissbrauch nicht von ihrer Gesamtproblematik lösen. Der Versuch allein nur an der Sucht zu arbeiten, ohne damit zusammenhängende Faktoren zu behandeln, ist zumeist zum Scheitern verurteilt.

Wohnungslosigkeit – Ursache oder Auswirkung der Erkrankung

Der Zusammenhang zwischen Wohnungslosigkeit und psychischer Störung, den jeweiligen Beginn und Verlauf, ist noch weit gehend ungeklärt.
Eine Untersuchung in einer deutschen psychiatrischen Klinik zeigte, dass sich bei den meisten Patienten mit Wohnungsproblemen (bei Aufnahme in die Klinik) dieses Problem während der Verweildauer in der Klinik nicht verändern lässt. Bei 116 aus Obdachlosigkeit aufgenommenen Patienten blieb auch nach der Entlassung die Obdachlosigkeit bestehen.
Das sagt allerdings noch nicht aus, an welcher ,,Stelle“ der Problemkreis ,,Wohnungslos und psychisch krank“ begonnen hat.

In einer Studie in den USA wurde festgestellt, dass bei einem Teil der Betroffenen (2/3) erhebliche psychische Störungen bereits vor Beginn der Wohnungslosigkeit zu bestehen scheinen, während es bei einem anderen Teil (1/3) erst nach der Wohnungslosigkeit zum Auftreten manifester Symptome kommt. Nur 3-8% der Betroffenen selbst beurteilen in dieser Befragung ihre psychischen Probleme als wichtigen Grund/Anlass für den Eintritt der Wohnungslosigkeit.

Die eine Gruppe zeit eine relativ unauffällige Entwicklung bis ins Erwachsenenalter hinein, dann setzt der Alkoholismus ein, und in der Folge kommt es zu Wohnungsverlust. Die zweite Gruppe dagegen zeichnet sich durch ein oder mehrere der folgenden Merkmale aus:
Zerrüttete Verhältnisse und/oder Missbrauch in der Primärfamilie, Verhaltensstörungen in der Kindheit oder im Jugendalter, früher Alkohol- und Drogenmissbrauch und in der Folge eine früh einsetzende Wohnungslosigkeit.
Bei Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen lag das auslösende Ereignis und der Beginn der Symptomatik mehrheitlich vor der Wohnungslosigkeit. Als weitere Risikofaktoren wurden Adoption, Heimunterbringung und kindliches Weglaufen gefunden. Die hohen Prävalenzraten psychischer Störungen bringen diese Autoren nur z.T. mit Armut in Zusammenhang.

Wohnungslose psychisch Kranke sind nicht obdachlos geworden, weil sie ein ungebundenes Leben aufnehmen wollten, sondern weil sie an der Wechselwirkung von psychischer Störung mangelnden Bewältigungsfähigkeiten, an der schrittweisen Auflösung des sozialen Netzes, einem für ihre Problemlagen nicht angepassten Hilfesystems und einer zersplitterten Sozialgesetzgebung scheiterten.

Stigmatisierung psychisch kranker Wohnungsloser

Ein weiterer ganz wesentlicher Aspekt für die Scheu psychiatrische Einrichtungen aufzusuchen ist die gesellschaftliche Realität der Stigmatisierung durch die Psychiatrie insgesamt.
Psychiatrie = psychisch krank = verrückt = gesellschaftlich im Abseits
Eine Assoziationskette, die immer noch gilt und sie gilt auch für Wohnungslose selbst.

Es ist für uns erstaunlich, dass vor allem Psychiatriepatienten das Obdach, die schlechteste Pension, der Klinik vorziehen.

Janina Köck

Studium der Sozialpädagogik an der FH Fulda von 2001 bis 2005 mit den Schwerpunkten: "Psychosoziale Beratung und Gesundheitsförderung" sowie "Heil- und Behindertenpädagogik". Zusätzliche Tätigkeit als Tutorin (+ halten von Vorlesungen) in den Vorlesungen Rhetorik, Teamtechnik und angewandte Sozialpsychologie. Journalistische Tätigkeit für den Fernstudiengang Sozialkompetenz und Leitung eines genderspezifischen Internet Projektes mit Jugendlichen für das Land Rheinland Pfalz. Danach von 2005 bis 2007 Gruppen- und Einzelbetreuung von Mädchen zwischen 14-21 Jahren im Betreuungsverbund St. Irmgardis in Krefeld. Seit 2008 freiberuflich tätig in meiner Praxis Leben im Einklang in Köln mit den Schwerpunkten psychologische Beratung, körperorientiertes Coaching, Homöopathie uvm.

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