Ungleichgewicht im Bundestag: Geschlecht, Alter, Beruf
Stand: 18. August 2025. Wer im Bundestag sitzt, entscheidet nicht nur über Gesetze, sondern prägt, welche Themen überhaupt auf die politische Tagesordnung kommen. Die soziale Zusammensetzung des Parlaments – nach Geschlecht, Alter und beruflichen Hintergründen – wirkt auf Prioritäten, Sprache, Kompromisse und letztlich auf das Leben von Millionen Menschen. Dieser Artikel bündelt aktuelle Zahlen und ordnet ein, welche Folgen die Zusammensetzung des 21. Deutschen Bundestags hat.
Warum die Zusammensetzung zählt
Demokratie lebt von Repräsentation. Wenn einzelne Gruppen dauerhaft unterrepräsentiert sind, drohen blinde Flecken: Probleme werden zu spät gesehen, Lösungen zu einseitig gedacht, und Vertrauen erodiert. Politikwissenschaftlich ist das gut belegt: Abgeordnete bringen ihre Biografien, Netzwerke und fachlichen Brillen in die Gesetzesarbeit ein. Nicht, weil sie „nur“ ihre Gruppe vertreten, sondern weil jede praktische Erfahrung Themen sichtbarer macht. Oder, wie es eine Expertin pointiert formuliert: „Wer nicht vertreten ist, kann leicht übersehen werden.“
Der Bundestag 2025 in Zahlen
Geschlechterverteilung
Der 21. Deutsche Bundestag hat 630 Mitglieder. Davon sind 204 Frauen, der Frauenanteil liegt bei 32,4 Prozent – und damit unter dem Niveau von 2021 (34,8 Prozent). Zwischen den Fraktionen fällt der Unterschied ins Auge: Bei Bündnis 90/Die Grünen ist eine deutliche Mehrheit weiblich, bei der AfD sind Frauen klar in der Minderheit. Auch CDU/CSU, SPD und Die Linke weisen unterschiedliche Anteile aus. Unterm Strich bleibt: Frauen sind insgesamt unterrepräsentiert.
- Gesamt: 204 von 630 Sitzen sind weiblich (32,4 %).
- Spanne zwischen den Fraktionen: von knapp über 10 % bis über 60 % Frauenanteil.
- Trend: Rückgang gegenüber dem Beginn der letzten Legislaturperiode.
International liegt Deutschland damit im Vergleich „nur“ im Mittelfeld bis oberen Mittelfeld: Viele europäische Parlamente – von Skandinavien bis Spanien – erreichen höhere Frauenanteile. In der erwachsenen Bevölkerung sind Frauen seit jeher rund die Hälfte; im Parlament spiegelt sich das nicht wider. Das hat Folgen für legitime Teilhabe – und für die Agenda.
Altersstruktur
Das Durchschnittsalter der Abgeordneten beträgt gut 47 Jahre. Frauen sind im Schnitt etwas jünger als Männer. Die größte Gruppe stellen die 50- bis 59-Jährigen, es gibt aber auch sehr junge Abgeordnete und sehr erfahrene Seniorinnen und Senioren:
- Durchschnittsalter gesamt: rund 47 Jahre.
- Frauen: im Mittel jünger als die Männer.
- Jüngste/r und Älteste/r: die Spanne reicht von Anfang 20 bis Mitte 80.
- Stärkste Kohorte: 50–59 Jahre, gefolgt von 40–49 Jahren.
Auch hier gibt es Fraktionsunterschiede: Parteien mit vielen jüngeren Abgeordneten vertreten oft stärker Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Klima, Teilhabe und moderne Familienpolitik. Parteien mit älteren Durchschnittsaltern setzen akzentuiert andere Schwerpunkte, etwa in Ordnungspolitik, innere Sicherheit oder klassische Industriepolitik. Beides ist legitim – die Balance entscheidet.
Berufliche Herkunft
Die beruflichen Hintergründe zeigen ein klares Muster: Recht, Verwaltung und Unternehmensorganisation dominieren. Gesundheits-, Lehr- und Sozialberufe sind vertreten – aber deutlich weniger. Technische, kaufmännische und Produktionsberufe kommen ebenfalls vor, bleiben zahlenmäßig jedoch hinter den juristisch-verwaltungsnahen Profilen zurück.
- Dominant: „Unternehmensorganisation, Recht, Verwaltung“ stellt den mit Abstand größten Block der Biografien.
- Deutlich kleiner: Gesundheits-, Lehr-, Sozial- und Erziehungsberufe; Sprach-, Kultur-, Gesellschafts- und Medienberufe.
- Selten: Produktions-, Fertigungs-, Vertriebs- und Tourismusberufe; Studierende, Auszubildende, Rentnerinnen und Rentner.
Damit einher geht eine auffällige Geschlechtercodierung einzelner Fachrichtungen: Unter den Abgeordneten mit Gesundheitsausbildung sind Frauen stark überrepräsentiert; in technischen Handwerks- und Ingenieurprofilen dominieren Männer. Auch bei Studienabschlüssen (Ingenieurwissenschaften vs. Erziehungs- oder Sprach- und Kulturwissenschaften) zeigen sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede.
Alte Rollenmuster – neue Effekte
Die Unterschiede zwischen den Fraktionen und innerhalb der beruflichen Profile haben kulturelle Wurzeln: Wer über Jahrzehnte männlich geprägte Netzwerke, Rekrutierungslogiken und Karrierepfade pflegt, reproduziert eine bestimmte Typologie von Politik. Parteien, die verbindliche Quoten, paritätische Listen und Doppelspitzen kennen, öffnen den Zugang sichtbarer für Frauen. Die Debatte darüber ist leidenschaftlich – in konservativen und rechten Milieus wird eine formale Quote oftmals mit dem Leistungsargument abgelehnt, während linke und grüne Milieus stärker auf verbindliche Gleichstellungsinstrumente setzen.
„Quotenregelungen sind wirklich international und auch empirisch nachweisbar das beste Instrument.“
Die praktische Folge ist weniger moralisch als materiell: Unterschiedliche Lebensrealitäten bringen unterschiedliche Problemdefinitionen hervor. Wo Care- und Kulturarbeit biografisch präsent ist, werden Fragen der Vereinbarkeit, Care-Infrastruktur und fairen Entlohnung früher und häufiger politisiert. Wo Technik- und Industrieprofile dominieren, rücken Wettbewerbsfähigkeit, Regulierungskosten und Standortlogik in den Fokus. Beides braucht das Land – aber ein Ungleichgewicht kann zu Einseitigkeiten führen.
Konkrete Auswirkungen auf Politikfelder
Pflege, Gesundheit, Soziales
Dass Gesundheit und Soziales zahlenmäßig kleiner vertreten sind, bedeutet nicht, dass diese Themen unpolitisch wären – im Gegenteil. Es erhöht aber das Risiko, dass strukturelle, oft langwierige Reformthemen (Pflegepersonalbemessung, Vergütung in Erziehungs- und Sozialberufen, kommunale Sozialarbeit) im Tagesgeschäft des Parlaments von sichtbareren, konfliktträchtigeren Themen verdrängt werden. Expertinnen, die in diesen Feldern arbeiten, weisen darauf hin, dass die Unterrepräsentanz auch eine Frage materieller Gerechtigkeit ist: Sektoren mit hoher gesellschaftlicher Bedeutung finden weniger „natürliche“ Anwälte im Plenum. Ein typischer Nebeneffekt: kurzfristige Zuschüsse statt struktureller, schwerer zu vermittelnder Umbauten.
Industrie, Arbeit, Wettbewerbsfähigkeit
Starke juristisch-verwaltungsnahe Profile können die Qualität von Gesetzen verbessern – etwa bei Grundrechtseingriffen oder bei der Handhabbarkeit von Regulierung. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass innovations- und produktionsnahe Perspektiven zu selten frühzeitig eingebunden werden: Wie wirkt sich eine Berichtspflicht in der Zulieferkette in der Fertigungspraxis aus? Welche Anreize funktionieren auf dem Shopfloor, nicht nur auf dem Papier? Je weniger Abgeordnete praktische Industrie- oder Produktionshintergründe haben, desto mehr muss das Parlament Kompensation über Anhörungen, externe Expertise und frühe Testfelder organisieren.
Digitalisierung und Technologie
Beim Querschnittsthema Digitalisierung ist die Altersstruktur spürbar: Jüngere Abgeordnete bringen häufig eine stärkere digitale Sozialisation mit – von Open-Source-Kultur bis Datenethik. Das kann Gesetzgebungsprozesse beschleunigen, weil Problemverständnis, Sprache und Alltagsnutzen dichter beieinanderliegen. Die Kehrseite: Digitalpolitik braucht Konsensfähigkeit quer durch Generationen; sonst droht ein Pingpong aus Euphorie und Skepsis. Entscheidend ist, dass Fraktionen generationenübergreifende Arbeitsgruppen stärken und Anhörungen so planen, dass unterschiedliche Erfahrungswerte (Start-up, Mittelstand, Verwaltungspraxis) zu Wort kommen.
Familien- und Gleichstellungspolitik
Auch hier zeigen sich Biografieeffekte: Weiblichere und jüngere Fraktionen priorisieren oft Vereinbarkeit, reproduktive Selbstbestimmung und Teilhabe. Das ist nicht „Identitätspolitik“, sondern eine folgerichtige Schwerpunktsetzung, wenn die Lebensrealität von Betreuung, Teilzeit, Sorgearbeit und Erwerbsverläufen im eigenen Alltag präsent ist. Umgekehrt bringen stärker männlich geprägte Fraktionen häufiger Ordnungsvorstellungen von Familie und Arbeitsmarkt ein. In der politischen Arena müssen diese Perspektiven produktiv reiben – Ziel ist ein normativer Ausgleich, der die Vielfalt von Lebensentwürfen ernst nimmt.
Beispiele aus der Praxis
- Gesetzesfolgenabschätzung: Eine Abgeordnete mit Pflegehintergrund insistiert darauf, dass eine neue Dokumentationspflicht im Pflegeheim nur dann sinnvoll ist, wenn gleichzeitig Personalbudgets und IT-Unterstützung steigen. Ihr Erfahrungswissen verhindert, dass gut gemeinte Regulierungen in der Praxis scheitern.
- Industriepolitik: Ein Abgeordneter mit Ingenieurpraxis drängt darauf, Pilotprojekte in mittelständischen Betrieben zu fördern statt ausschließlich in Großunternehmen – weil Innovation oft in kleinen Serien entsteht. Dieser Impuls verschiebt Förderkriterien und erhöht die Wirksamkeit.
- Digitale Verwaltung: Eine junge Abgeordnete, die in der Kommunalpolitik digitale Dienste aufgebaut hat, bremst ein Vorhaben, das auf dem Papier elegant wirkt, aber Schnittstellen der Länder übersieht. Ihr Veto verhindert spätere kostspielige Nachbesserungen.
Keines dieser Beispiele ist parteipolitisch „reserviert“. Sie zeigen, wie gelebte Erfahrung die Qualität von Gesetzen verbessern kann – und warum Vielfalt in Biografien kein nettes „Add-on“, sondern eine Produktivkraft der Demokratie ist.
Parteikultur und Rekrutierung: Wo Veränderung ansetzt
Dass die Geschlechterverhältnisse so stark variieren, hängt mit parteiinternen Regeln und Kulturen zusammen. Parteien mit verbindlichen Instrumenten – Quoten, paritätische Listen, transparente Auswahlverfahren, familienfreundliche Sitzungszeiten – entwickeln andere Rekrutierungslogiken und Vorbilder als Parteien, die vor allem auf Eigeninitiative und Netzwerke setzen.
„In konservativen und rechten Parteien sind wir viel mehr mit klassischen Männernetzwerken konfrontiert.“
Für alle Parteien gilt: Wenn Bewerbungshürden sinken (klare Ausschreibungen, Mentoring, Kinderbetreuung bei Parteitagen, Reisekostenausgleich), steigen die Chancen, dass Menschen mit „Nicht-Standard“-Profilen kandidieren – Pflegekräfte, Meisterinnen und Meister, Gründerinnen und Gründer, Menschen mit Migrationserfahrung, Erstakademikerinnen und -akademiker. Das diversifiziert den Blick auf Probleme – und die Lösungsinstrumente.
Gesellschaftlicher Kontext und internationale Einordnung
Der Rückgang des Frauenanteils fällt in eine Zeit, in der Gleichstellungspolitik unter politischen Druck geraten ist. International zeigen sich zugleich erfolgreiche Gegenmodelle: Länder mit hohen Frauenanteilen in Parlamenten erreichen diese häufig durch robuste Gleichstellungsinstrumente (Paritätsgesetze, Listenregeln, finanzielle Anreize). Deutschland liegt im internationalen Vergleich nicht an der Spitze, aber auch nicht am Ende – es bleibt Luft nach oben. Entscheidend ist die Debatte, wie Repräsentation erhöht werden kann, ohne Wahlrechtsgrundsätze zu verletzen und ohne die Akzeptanz zu verspielen.
Was tun? Drei Ebenen für mehr Repräsentanz
1) Wahlrecht und Rahmen
Wahlrechtsreformen wirken – die Verkleinerung des Bundestags auf 630 Sitze zeigt, dass institutionelle Stellschrauben politisches Verhalten verändern. Paritätische Elemente bleiben rechtlich umstritten; diskutiert werden aber auch mildere Instrumente: Reißverschluss-Listen, finanzielle Anreize für paritätische Aufstellungen, Zielvereinbarungen mit Monitoring. Wichtig ist Transparenz: Wer wie und warum aufstellt, sollte öffentlich nachvollziehbar sein.
2) Parteiinternes Recruiting
Mentoringprogramme, aktive Kandidat/innen-Suche jenseits der üblichen Netzwerke, Qualifizierungen für Kandidaturen aus Sozial- und Handwerksberufen – das sind Hebel, die Parteien selbst in der Hand haben. Ebenso wichtig: Sitzungszeiten, die Erwerbs- und Sorgearbeit vereinbar machen, sowie eine Kultur, die nicht nur rhetorisch wertschätzt, wenn Menschen aus nicht-akademischen Berufen Verantwortung übernehmen.
3) Parlamentsarbeit
Im Bundestag selbst helfen Verfahren, die Vielfalt zu institutionalisieren: ständige Diversitäts-Checks in Gesetzentwürfen (welche Gruppen profitieren, welche tragen Lasten?), systematische Praxisfolgenabschätzungen mit Menschen aus der Anwendung, mehr Bürgerpanels und strukturierte Anhörungen, die nicht nur die üblichen Verbände einladen. Das macht Gesetze robuster – und erhöht Akzeptanz.
Ein realistisches Zielbild
Niemand wird über Nacht das „perfekt repräsentative“ Parlament herstellen. Aber ein Parlament, das der Bevölkerung in Alter, Geschlecht und Berufsnähe erkennbar ähnlicher wird, arbeitet realistischer, sprachfähiger und vorausschauender. Der Weg dorthin ist kein Kulturkampf, sondern Organisationsentwicklung: Regeln anpassen, Rekrutierung öffnen, Arbeitskulturen modernisieren.
Lebenswirklichkeiten
Die Zusammensetzung des Bundestags ist keine Nebensache. Sie entscheidet mit darüber, welche Lebenswirklichkeiten sichtbar sind, welches Wissen in Normen einfließt, wie gut Gesetze alltagstauglich sind – und wie sehr sich Bürgerinnen und Bürger wiederfinden. Der Frauenanteil ist gesunken, die Altersstruktur verschiebt sich, die Berufslandschaft bleibt juristisch-verwaltungsnah. Das ist kein Drama, aber eine Einladung zum Gegensteuern: mehr Pluralität in der Kandidatengewinnung, klügere Verfahren im Gesetzmachen, bewusstere Ausgewogenheit in den Fraktionen. Denn nur ein Parlament, das die Gesellschaft in ihrer Vielfalt ernst nimmt, kann die großen Transformationen – von Pflege über Klima bis Digitalisierung – souverän und fair gestalten.
Datenstand und Quellenhinweis: Zahlen zu Mitgliederzahl, Frauenanteil, Altersstruktur, Alters- und Berufsverteilung stammen aus offiziellen Parlamentsstatistiken und aktuellen Auswertungen; Einschätzungen zu alten Rollenmuster-Effekten beruhen u. a. auf jüngsten Fachinterviews und Analysen; internationale Einordnung auf aktuellen Statistikvergleichen. Zitate sind wörtlich gekennzeichnet.