Am 11. Juli 2025 jährt sich das Massaker von Srebrenica zum 30. Mal – ein Verbrechen, das als der schlimmste Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gilt.
Über 8.000 bosniakische Männer und Jungen wurden 1995 von bosnisch-serbischen Truppen unter General Ratko Mladić systematisch ermordet, obwohl die Stadt unter dem Schutz der Vereinten Nationen stand. Dieses Verbrechen hat sich tief in das kollektive Gedächtnis Europas eingebrannt – und wirft bis heute Fragen über internationale Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur auf. In Gedenkveranstaltungen weltweit, etwa in Berlin, Sarajevo und Srebrenica selbst, wird den Opfern gedacht. „Srebrenica mahnt uns: Nie wieder darf Wegsehen zur Mitschuld werden“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkfeier in Potočari.
Historischer Kontext
Das Massaker von Srebrenica steht in engem Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens Anfang der 1990er-Jahre. Nach dem Tod von Josip Broz Tito traten Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen offen zutage. Im April 1992 erklärte Bosnien und Herzegowina seine Unabhängigkeit. Daraufhin begann ein brutaler Krieg, in dem serbische Kräfte unter Führung von Radovan Karadžić und General Ratko Mladić das Ziel verfolgten, ein rein „serbisches“ Territorium zu schaffen. Die Strategie: systematische ethnische Säuberungen – Vergewaltigungen, Vertreibungen, Mord.
Um die Zivilbevölkerung zu schützen, erklärte der UN-Sicherheitsrat 1993 sechs Gebiete in Bosnien – darunter Srebrenica – zu „Schutzzonen“ („Safe Areas“). Doch diese Bezeichnung erwies sich als trügerisch. Die wenigen niederländischen UN-Blauhelme (Dutchbat) waren schlecht ausgerüstet, unterbesetzt und hatten kein robustes Mandat. Die Zivilbevölkerung in Srebrenica war somit de facto ungeschützt.
Das Massaker
Am 11. Juli 1995 marschierten bosnisch-serbische Einheiten in die von Flüchtlingen überfüllte Stadt Srebrenica ein. Vor laufender Kamera versprach Ratko Mladić den versammelten Bewohnern, dass „niemandem etwas geschehen werde“. Ein Video zeigt ihn, wie er Kindern Schokolade überreicht – wenige Stunden später begannen die systematischen Morde.
Die Männer und Jungen wurden von den Frauen getrennt und unter dem Vorwand „verhört“ oder „registriert“ verschleppt. Binnen weniger Tage wurden sie erschossen, in Wäldern, Schulen, Lagerhallen und Feldern. Viele wurden in Massengräbern verscharrt, später umgebettet, um Spuren zu verwischen. Frauen und Kinder wurden in Bussen deportiert, viele berichteten von Misshandlungen und Vergewaltigungen.
Die niederländischen UN-Soldaten, ohne Rückendeckung der Vereinten Nationen oder NATO, leisteten keinen Widerstand. Später bezeichnete der Kommandeur Thom Karremans das Geschehen als „eine Tragödie“, aber nicht als Genozid – eine Aussage, die bis heute Wut und Entsetzen bei Überlebenden auslöst.
Juristische Aufarbeitung
Die internationale Gemeinschaft reagierte mit Verzögerung. Erst 1993 war der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) eingerichtet worden. In den Folgejahren wurden zahlreiche Verantwortliche angeklagt und verurteilt, darunter Radovan Karadžić und Ratko Mladić – beide erhielten lebenslange Haftstrafen. Der ICTY erkannte das Massaker eindeutig als Völkermord an. Auch der Internationale Gerichtshof (IGH) bestätigte 2007 in einem Urteil, dass in Srebrenica ein Genozid begangen wurde.
Trotz dieser Urteile sind die juristischen und politischen Aufarbeitungen in Serbien und in der serbisch dominierten Entität „Republika Srpska“ in Bosnien bis heute von Verleugnung und Relativierung geprägt. Präsident Milorad Dodik bezeichnete das Massaker 2023 erneut als „konstruiertes Narrativ“ und löste internationale Proteste aus. Die EU forderte daraufhin eine entschlossene Abgrenzung von Geschichtsrevisionismus als Voraussetzung für weitere Beitrittsgespräche mit Serbien.
Erinnerungskultur und Gedenken
In den letzten drei Jahrzehnten hat sich rund um Srebrenica eine vielschichtige Erinnerungskultur entwickelt. Die Gedenkstätte in Potočari – im ehemaligen UN-Stützpunkt – ist heute ein zentraler Ort des stillen Gedenkens. Jedes Jahr am 11. Juli werden neu identifizierte Opfer bestattet, deren Überreste durch aufwendige DNA-Analysen aus Massengräbern exhumiert wurden.
Ein zentrales Symbol ist der „Marš mira“ (Friedensmarsch), der jährlich Anfang Juli Tausende Menschen auf den historischen Fluchtwegen der Überlebenden von Nezuk nach Srebrenica führt. Viele Teilnehmer*innen tragen T-Shirts mit den Namen der Ermordeten, andere Schweigeplakate mit der Botschaft: „Wir vergessen nicht.“
Im Sarajevo Memorial Center „Galerija 11/07/95“ werden persönliche Gegenstände der Opfer ausgestellt – Brillen, Uhren, Schuhe. Kuratorin Aida Šehović sagt: „Diese Dinge erzählen mehr als jedes Gerichtsprotokoll. Sie sind stumme Zeugen der Menschlichkeit, die ausgelöscht werden sollte.“
Die „Mütter von Srebrenica“ – eine Initiative überlebender Frauen – kämpften über Jahrzehnte hinweg für internationale Anerkennung, Aufklärung und Gerechtigkeit. Ihre Beharrlichkeit war ausschlaggebend für die Einrichtung des ICTY und die politische Thematisierung des Genozids in internationalen Gremien.
Im Jahr 2024 verabschiedete die UN-Generalversammlung erstmals eine Resolution, die den 11. Juli als „Internationalen Tag des Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica“ ausrief. Serbien protestierte heftig, die serbische Regierung sprach von „einseitiger Schuldzuweisung“. Doch 84 Staaten – darunter Deutschland, Frankreich, die USA und Japan – stimmten dafür.
Politische Debatten 2025
Auch 2025 ist Srebrenica Gegenstand politischer Debatten. In Deutschland kam es wenige Tage vor dem Jahrestag zu einem Eklat im Bundestag: Ein Abgeordneter der AfD behauptete, dass der Begriff „Völkermord“ überzogen sei. Der Bundestagspräsident unterbrach die Sitzung, Abgeordnete aller demokratischen Parteien erhoben sich spontan zum stillen Gedenken. Außenministerin Annalena Baerbock erklärte dazu: „Wer die Verbrechen von Srebrenica relativiert, stellt sich außerhalb unserer demokratischen und menschlichen Werteordnung.“
In der EU stößt die Leugnung des Genozids zunehmend auf Ablehnung. Mehrere Länder – darunter Österreich, Belgien und Schweden – diskutieren derzeit strafrechtliche Maßnahmen gegen Genozidleugnung in Anlehnung an bestehende Holocaust-Gesetze. Die Europäische Kommission forderte in einem Grundsatzpapier im Juni 2025 „eine gemeinsame Erinnerungspolitik, die historischen Fakten verteidigt“.
Gleichzeitig bleibt die politische Lage auf dem Westbalkan fragil. Nationalistische Kräfte in Serbien und der Republika Srpska befeuern gezielt Geschichtsrevisionismus, während zivilgesellschaftliche Akteur*innen um historische Wahrhaftigkeit und Versöhnung kämpfen. Die junge Generation in Bosnien zeigt laut aktuellen Umfragen ein wachsendes Interesse an Aufarbeitung – trotz gegenteiliger Einflüsse im Bildungssystem.
Politische Verantwortung
Drei Jahrzehnte nach dem Völkermord von Srebrenica bleibt die zentrale Mahnung: Erinnerung ist kein Selbstzweck, sondern politische Verantwortung. Der internationale Umgang mit den Ereignissen von 1995 hat einerseits juristische Maßstäbe gesetzt – andererseits zeigte er auch die Schwächen multilateraler Schutzmechanismen.
Srebrenica steht heute als Symbol für das Versagen der internationalen Gemeinschaft – aber auch für die Kraft der Überlebenden und der Zivilgesellschaft, Wahrheit und Gerechtigkeit einzufordern. Wie es die Überlebende Munira Subašić sagte: „Wir haben unsere Männer verloren. Aber wir haben nie unsere Stimme verloren.“
Gedenken bedeutet, sich nicht zu gewöhnen – weder an das Schweigen noch an die Leugnung. In einer Zeit, in der autoritäre Tendenzen und Nationalismus wieder zunehmen, ist die Erinnerung an Srebrenica aktueller denn je.