Der Misstrauensantrag ist eines der mächtigsten Werkzeuge in der parlamentarischen Demokratie. Er erlaubt es Abgeordneten, das Vertrauen in eine Regierung oder eine Kommission formell in Frage zu stellen – mit dem Ziel, diese abzusetzen.
In der Europäischen Union ist diese Möglichkeit auf die EU-Kommission beschränkt, die als Exekutive der Union agiert. Ein aktueller Anlass zeigt, wie brisant dieses Instrument sein kann: Im Juli 2025 stand EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Zentrum eines Misstrauensantrags, der die europäische Politik erschütterte – auch wenn er am Ende scheiterte.
Hintergründe und Auslöser
Der jüngste Misstrauensantrag gegen von der Leyen kam nicht überraschend. Schon länger stand sie in der Kritik – vor allem wegen mangelnder Transparenz im Umgang mit der Corona-Impfstoffbeschaffung. Im Zentrum steht die sogenannte „Pfizergate“-Affäre: Während der Pandemie soll von der Leyen per SMS mit Pfizer-Chef Albert Bourla über Vertragsdetails kommuniziert haben. Diese Nachrichten sind bis heute nicht öffentlich einsehbar. Ein EU-Ombudsmann und der Europäische Rechnungshof hatten bereits 2022 die Intransparenz kritisiert.
Dazu kam neue Kritik: Die Kommissionspräsidentin soll sich in innerstaatliche Wahlprozesse eingemischt haben, etwa in Rumänien. Gleichzeitig wurde ihre Verteilungspraxis der Corona-Wiederaufbaufonds als undurchsichtig bezeichnet. Die Summe der Vorwürfe ließ den Druck auf die Präsidentin wachsen.
Initiatoren und politische Konstellationen
Am 10. Juli 2025 reichten 77 Abgeordnete aus verschiedenen Fraktionen einen Misstrauensantrag gegen Ursula von der Leyen ein. Zu den Initiatoren gehörte unter anderem Gheorghe Piperea, ein rumänischer Abgeordneter der rechtskonservativen EKR-Fraktion. Unterstützung kam auch von Abgeordneten der AfD, der italienischen Lega und dem französischen Rassemblement National.
Formell genügt es, wenn mindestens zehn Prozent der Europaabgeordneten – also derzeit 72 – einen Antrag unterzeichnen. Um erfolgreich zu sein, müsste jedoch eine Zweidrittelmehrheit im Plenum zustimmen, das sind mindestens 360 Stimmen bei aktuell 720 Abgeordneten. Diese hohe Hürde zeigt, wie drastisch ein solcher Schritt ist – und warum er selten angewendet wird.
Ablauf und Ergebnis der Abstimmung
Die Debatte im Parlament war hitzig. Während Kritiker von der Leyen mangelnde demokratische Rechenschaftspflicht und einen autoritären Führungsstil vorwarfen, verteidigten ihre Unterstützer ihre Rolle als „stabilisierende Kraft in einer unruhigen Union“. In der anschließenden geheimen Abstimmung stimmten 175 Abgeordnete für den Antrag, 360 dagegen, 18 enthielten sich. Damit war das notwendige Quorum deutlich verfehlt.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie selten solche Anträge überhaupt eingebracht – geschweige denn erfolgreich sind. Das einzige erfolgreiche Misstrauensvotum im EU-Parlament betraf 1999 die Kommission von Jacques Santer. Damals war ein massiver Korruptionsskandal ans Licht gekommen. 2014 scheiterte ein Antrag gegen Jean-Claude Juncker, der unter anderem von der UKIP und der französischen Front National angestoßen worden war.
Politische Folgen und Deutung
Auch wenn der Misstrauensantrag gegen von der Leyen scheiterte, hatte er politische Konsequenzen. Vor allem zeigte sich, dass ihr Rückhalt bröckelt. „Ursula von der Leyen hat den Antrag überstanden – aber sie hat eine Wunde davongetragen“, kommentierte die französische Zeitung Le Monde. Selbst innerhalb der pro-europäischen Fraktionen mehrten sich die kritischen Stimmen.
So äußerte sich die sozialdemokratische Fraktion S&D ungewöhnlich scharf: „Wir erwarten von der Kommissionspräsidentin einen anderen Umgang mit Transparenz und Rechenschaftspflicht“, erklärte Fraktionsvorsitzende Iratxe García Pérez. Auch Vertreter der Grünen und der Liberalen (Renew Europe) kritisierten die Nähe von der Leyens zur konservativen EKR-Fraktion, mit der sie zuletzt vermehrt Gespräche geführt hatte.
Die Tageszeitung t-online fasste zusammen: „Das Votum war zwar erwartungsgemäß erfolglos – doch es markiert eine neue Phase der Skepsis gegenüber der Präsidentin.“ Die politische Mitte, auf die von der Leyen in ihrer zweiten Amtszeit angewiesen wäre, beginnt zu wanken.
Reaktion von Ursula von der Leyen
Ursula von der Leyen selbst ließ sich von der Abstimmung keine Schwäche anmerken. In ihrer Verteidigungsrede bezeichnete sie die Antragsteller als „Ideenköche aus dem ältesten Handbuch der Extremisten“. Die Kommunikation mit Pfizer sei „Teil eines transparenten und erfolgreichen Impfprozesses“ gewesen, so von der Leyen. Die Textnachrichten seien schlichtweg „nicht mehr auffindbar“.
Gleichzeitig machte sie politische Zugeständnisse. Beobachter berichten, dass sie in den Tagen vor der Abstimmung zusätzliche Mittel für den Europäischen Sozialfonds in Aussicht stellte – offenbar als Zugeständnis an kritische Sozialdemokraten. Damit gelang es ihr, eine breite Mehrheit hinter sich zu vereinen – zumindest für den Moment.
Wirkung eines gescheiterten Antrags
Ein gescheiterter Misstrauensantrag scheint auf den ersten Blick folgenlos – doch das Gegenteil ist häufig der Fall. Historisch gesehen hatten auch erfolglose Anträge politische Nachwirkungen. So musste Kommissionspräsident Juncker nach dem Antrag von 2014 sein Transparenzprogramm überarbeiten. Bei von der Leyen wird nun mit Spannung beobachtet, ob sie ihren politischen Kurs anpasst.
Der Politikwissenschaftler Dr. Marco Schwarz vom Zentrum für Europäische Studien in Brüssel erklärte: „Auch wenn der Antrag scheiterte, war es ein Weckruf. Das Parlament hat demonstriert, dass es bereit ist, die Exekutive öffentlich in Frage zu stellen.“ Die Kommissionspräsidentin könne sich ihrer Mehrheit nicht mehr sicher sein – vor allem mit Blick auf die nächste Amtszeit nach den Europawahlen 2024.
Die Abstimmung war auch ein Signal an künftige Kommissionspräsidenten: Die Zeiten der automatischen Zustimmung durch das Parlament sind vorbei. Die demokratische Rechenschaftspflicht innerhalb der EU-Institutionen nimmt zu – wenn auch langsam.
Ein politisches Spektakel
Der Misstrauensantrag gegen Ursula von der Leyen war ein politisches Spektakel – und mehr als nur ein symbolischer Akt. Er war Ausdruck wachsender Spannungen innerhalb des EU-Parlaments, das seine Kontrollfunktion stärker wahrzunehmen beginnt. Die schärfste Waffe des Parlaments wurde gezückt, auch wenn sie letztlich nicht traf.
Für von der Leyen bedeutet das Votum eine Mahnung. Ihre politische Zukunft wird davon abhängen, ob sie das Vertrauen der pro-europäischen Mitte zurückgewinnen kann. Auch das Verhältnis zu den rechtskonservativen Fraktionen wird eine entscheidende Rolle spielen. Denn wie schon 2019 hängt ihre Mehrheit von diffizilen politischen Allianzen ab.
Zugleich wirft das Verfahren grundlegende Fragen zur Transparenz in der EU auf. Der Umgang mit Pfizergate, das Fehlen institutioneller Regeln für digitale Kommunikation und die Rolle der Kommission in nationalen Prozessen werden das Parlament auch in Zukunft beschäftigen.
In einer Zeit wachsender EU-Skepsis in vielen Mitgliedsstaaten ist es von entscheidender Bedeutung, dass die demokratischen Instrumente der Union – auch ein Misstrauensvotum – nicht nur als Formalie, sondern als Ausdruck politischer Reife verstanden werden. In diesem Sinne war der Antrag vom Juli 2025 ein deutliches Zeichen: Das Parlament erhebt seine Stimme – auch wenn sie (noch) nicht laut genug ist, um eine Kommission zu stürzen.