Kaum ein sicherheitspolitisches Thema hat in Deutschland so viel Emotionen und Kontroversen ausgelöst wie die Wehrpflicht. Über Jahrzehnte galt sie als Ausdruck gesellschaftlicher Verantwortung und staatsbürgerlicher Pflichten.
Mit der Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 2011 schien dieses Kapitel abgeschlossen – doch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 wird in Politik, Bundeswehr und Gesellschaft wieder verstärkt über eine Rückkehr diskutiert. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hat 2024 ein neues Wehrdienstmodell vorgestellt, das viele Fragen aufwirft: Wie steht es um die Wehrgerechtigkeit? Ist die Bundeswehr überhaupt in der Lage, Tausende neue Rekruten auszubilden? Und ist ein Pflichtdienst in einer freiheitlichen Gesellschaft noch zeitgemäß?
Historischer Überblick
Von der Bürgerwehr zum modernen Massenheer (bis 1918)
Die Ursprünge der Wehrpflicht in Deutschland lassen sich bis in die Zeit der napoleonischen Befreiungskriege zurückverfolgen. 1813 wurde im Königreich Preußen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt – ein Novum, das den Übergang von kleinen Berufsheeren zu Massenarmeen markierte. Die Idee: Jeder männliche Staatsbürger sollte zur Verteidigung des Vaterlandes beitragen. Mit der Reichsgründung 1871 wurde die Wehrpflicht reichseinheitlich geregelt, die Wehrdienstdauer betrug zwei bis drei Jahre.
Weimarer Republik und NS-Zeit
Nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland durch den Versailler Vertrag gezwungen, seine Armee drastisch zu verkleinern. Eine allgemeine Wehrpflicht war offiziell verboten. Doch schon 1935 hob das NS-Regime diese Regelung auf – Adolf Hitler führte die Wehrpflicht erneut ein, um seine Aufrüstungspläne voranzutreiben. Die Wehrpflicht wurde zum Instrument totalitärer Kontrolle und militärischer Expansion. Wer sich verweigerte, dem drohten Haft, Konzentrationslager oder gar der Tod.
Die Bundesrepublik im Kalten Krieg
1956 führte die junge Bundesrepublik Deutschland die Wehrpflicht im Zuge der Wiederbewaffnung ein – diesmal als Teil eines demokratisch kontrollierten Systems. Die Bundeswehr verstand sich als „Parlamentsarmee“, die „Innere Führung“ und das Konzept des „Staatsbürgers in Uniform“ wurden zentrale Elemente. Die Wehrpflicht betrug in den 1960er-Jahren bis zu 18 Monate. Neben dem Militärdienst etablierte sich auch der Zivildienst als Alternative für Kriegsdienstverweigerer.
Die Aussetzung 2011: Gründe und Folgen
Am 1. Juli 2011 wurde die Wehrpflicht de facto ausgesetzt – nicht abgeschafft, sondern durch ein Aussetzungsgesetz unbefristet pausiert. Federführend war der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). Er begründete den Schritt mit mangelnder Wehrgerechtigkeit und den gestiegenen Anforderungen an eine moderne, professionelle Einsatzarmee. „Die Wehrpflicht ist nicht mehr zeitgemäß und nicht mehr gerecht“, sagte Guttenberg damals.
Die Folgen dieser Entscheidung sind bis heute spürbar: Die Truppenstärke sank auf unter 185.000 aktive Soldatinnen und Soldaten. Die Verbindung zwischen Gesellschaft und Bundeswehr wurde schwächer. Die Bundeswehr kämpfte zunehmend mit Nachwuchsproblemen und verlor in der öffentlichen Wahrnehmung an Präsenz. Auch der Zivildienst entfiel, wodurch viele soziale Einrichtungen vor neue Herausforderungen gestellt wurden.
Die aktuelle Debatte (seit 2024/25)
Warum die Wehrpflicht wieder diskutiert wird
Der russische Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 veränderte die sicherheitspolitische Lage in Europa grundlegend. Die NATO-Staaten rüsten auf – Deutschland versprach ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Doch trotz dieser Investitionen klafft eine Personallücke. Laut Verteidigungsministerium fehlen mittelfristig 75.000 bis 100.000 Soldaten, um die neuen NATO-Verpflichtungen zu erfüllen. Der Verteidigungsexperte Carlo Masala sprach im Juni 2025 in einem Interview mit dem ZDF von einer „existentiellen Krise der personellen Einsatzbereitschaft“ der Bundeswehr.
Das neue Wehrdienstmodell von Boris Pistorius
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) stellte im Sommer 2024 sein neues Modell für einen „freiwilligen, aber verpflichtend vorbereiteten Wehrdienst“ vor. Es sieht vor, dass alle 18-jährigen Männer ab 2025 einen Fragebogen ausfüllen müssen. Frauen können sich freiwillig beteiligen. Aus dem Pool der Rückmeldungen sollen gezielt Freiwillige für einen sechsmonatigen Grundwehrdienst gewonnen werden – mit der Option auf Verlängerung auf bis zu 23 Monate.
Pistorius betonte mehrfach, dass es „nicht um eine Rückkehr zur alten Wehrpflicht“ gehe, sondern um ein modernes Modell. „Wir müssen junge Menschen für den Dienst an der Gesellschaft gewinnen – durch Motivation, nicht durch Zwang“, sagte er auf dem Bundeswehrtag in Berlin im Juni 2025.
Reaktionen aus Politik und Gesellschaft
Die SPD signalisierte auf ihrem Bundesparteitag im Juni 2025 grundsätzlich Zustimmung zum Pistorius-Modell, betonte aber, dass eine tatsächliche Verpflichtung nur als letztes Mittel infrage komme. „Freiwilligkeit hat Vorrang“, heißt es im verabschiedeten Leitantrag. Kritiker sehen darin eine unnötige Verzögerung. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, erklärte: „Freiwilligkeit allein wird nicht reichen. Wir brauchen einen klaren Pfad zurück zur Pflicht – auch, um Planungssicherheit zu schaffen.“
Die FDP lehnt eine verpflichtende Musterung und Einberufung strikt ab. Justizminister Marco Buschmann sagte gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“: „Wir dürfen unsere freiheitliche Verfassung nicht mit Modellen belasten, die mit der Wehrgerechtigkeit von einst nichts mehr zu tun haben.“
Auch die Bevölkerung ist gespalten. Eine Umfrage von YouGov im Auftrag der dpa ergab im Juni 2025: 54 Prozent der Befragten befürworten die Rückkehr zur Wehrpflicht – darunter auch 36 Prozent, die sie für Frauen und Männer gleichermaßen wollen. Besonders bei älteren Befragten überwiegt die Zustimmung, während junge Menschen mehrheitlich ablehnend reagieren.
Logistische, gesellschaftliche und rechtliche Herausforderungen
Der Ausbau der Bundeswehr stellt enorme Anforderungen an Personal, Infrastruktur und rechtliche Grundlagen. Allein für die Ausbildung von 15.000 neuen Wehrdienstleistenden bis 2026 müssen Kasernen saniert, Ausbilder rekrutiert und Ausrüstung beschafft werden. Laut Bundeswehrverband reichen die derzeitigen Kapazitäten nur für maximal 7.000 Grundwehrdiener jährlich.
Zudem sind rechtliche Fragen ungeklärt: Eine allgemeine Wehrpflicht für Frauen wäre verfassungsrechtlich nur mit einer Grundgesetzänderung möglich. Auch die Gleichbehandlung zwischen Bildungswegen (Studium vs. Wehrdienst) und die Anerkennung von alternativen Diensten im sozialen Bereich müssten gesetzlich neu geregelt werden.
Ein weiteres Problem: Viele junge Menschen haben heute andere Lebensplanungen – Studium, Auslandsaufenthalte, freiwilliges Engagement. Der Soziologe Prof. Harald Welzer warnte im Interview mit „Der Spiegel“: „Ein reaktiviertes Pflichtsystem steht im Widerspruch zu einer individualisierten Lebenswelt und könnte zu gesellschaftlichen Spannungen führen.“
Beispiele aus dem europäischen Ausland
Skandinavische Staaten wie Norwegen oder Schweden haben in den letzten Jahren erfolgreich Modelle einer geschlechtergerechten Wehrpflicht eingeführt. In Norwegen werden Männer und Frauen gleichermaßen gemustert, aber nur ein Teil tatsächlich einberufen. Entscheidend ist die Eignung – nicht das Geschlecht. In Litauen wurde die Wehrpflicht nach der Krim-Annexion 2014 reaktiviert. Die Truppenstärke stieg signifikant, ohne massive Proteste.
Deutschland könnte aus diesen Modellen lernen – etwa durch eine Kombination aus Selektivpflicht und attraktiven Ausbildungsangeboten, die auch zivil genutzt werden können.
Ausblick und Fazit
Die Wehrpflicht in Deutschland steht am Wendepunkt. Nach über einem Jahrzehnt der Aussetzung ist sie wieder Thema einer breiten gesellschaftlichen und politischen Debatte. Das neue Modell von Minister Pistorius versucht, Freiwilligkeit und Verpflichtung miteinander zu kombinieren – ein Balanceakt, der vor allem durch Zeitdruck erschwert wird. Denn die NATO erwartet von Deutschland mehr Engagement – nicht nur finanziell, sondern auch personell.
Ob es gelingt, junge Menschen für den Dienst in der Bundeswehr zu begeistern, wird von mehreren Faktoren abhängen: attraktiven Bedingungen, einer offenen Kommunikationsstrategie und einer klaren politischen Linie. Klar ist aber auch: Sollte das freiwillige Modell scheitern, wird eine Rückkehr zur verpflichtenden Wehrpflicht wohl unausweichlich sein.
Wie Verteidigungsminister Pistorius betont: „Verteidigungsfähigkeit ist kein Luxus, sondern eine demokratische Notwendigkeit.“ Ob diese Notwendigkeit mit Freiwilligkeit erfüllt werden kann – oder ob doch wieder Pflicht und Zwang notwendig sind – bleibt die zentrale Frage der kommenden Jahre.