Drogenpolitik in Merseyside – Liverpool

Fachhochschule Frankfurt
Fb Sozialpädagogik
April 1991

Kurs: Drogenpolitik
Dozentin: Heide Köchler
Referent: Frank Doerr

Thema: Bericht von Merseyside/Liverpool

1. Demographie Merseysides

In England sind – abgesehen von privaten Trägern – drei Behörden für die lokale Drogenpolitik verantwortlich, nämlich Gesundheits-, Polizei- und Ortsbehörden. MRHA (Die regionale Gesundheitsbehörde von Mersey) ist für zehn Distrikte verantwortliche wobei in diesem Bericht fünf genauer beleuchtet werden:

Distrikt Bevölkerung Männer 15-29 J. Arbeitslose/EAP
Liverpool 465.900 48% 24% 20%
Wirral 355.500 48% 22% 12%
South Sefton 177.600 48% 23% 13%
Southport & Formby 122.000 47% 21% 7%
St. Helens & Knowsley 346.300 49% 24% 14%
Merseyside 1.467.300 48% 23% 15%

Die einzige Stadt Merseysides ist Liverpool welches am meisten unter der nationalen Wirtschaftsrezession der 80er gelitten hat. Im Stadtbezirk Granby betrug die Arbeitslosenquote Mitte 1988 46%, in sozialen Brennpunkten Liverpools ist sie bei jungen Leuten höher als 70%.

2. Britische Drogengesetzgebung

Wichtigstes Drogengesetz in UK ist das Gesetz zum Drogenmissbrauch (MOD-Act) von 1971. Im MOD-Act sind geregelt: Strafen für Vergehen, Einteilung der Drogen in drei Klassen und zwei Hauptkategorien von Vergehen, nämlich Besitz und Verkauf. Drogenkonsum an sich ist nicht verboten (ausgenommen Opium).

Einteilung der Drogen in folgende Klassen:

  • Klasse A: Heroin, andere starke Opiate (Methadon, Morphium), Kokain, Halluzinogene (LSD, MDMA) sowie einige Klasse B Drogen in injizierbarer Form.
  • Klasse B: Cannabis, Amphetamine, andere starke Stimulantien, schwache Opiate (Codein) und Barbiturate.
  • Klasse C: Tranquilizer, einige Hypnosedative und schwache Stimulantien.

Besitz meint nur ‚Haben der Droge‘, Handel schließt Lieferung, Absicht bzw. Angebot zur Lieferung, Einfuhr/Ausfuhr und Hilfe zum Handel ein. Ebenso gibt es eine Spannweite bzgl. der Rechtssprechung (absolute/bedingte Entlastung, Bewährungsfrist, Überwachung, Öffentliche Dienstauflagen), die Strafen für Drogenvergehen können von Geld- bis Gefängnisstrafen reichen (letztere urteile können teilweise oder völlig ausgesetzt werden).

Vergehen Gerichtsverfahren Klasse A Klasse B Klasse C
Besitz Schnellgericht 6 Monate und 2000 Pfund 3 Monate und 5oo Pfund 3 Monate und 2oo Pfund
Besitz Anklagegericht 7 Jahre und unbegrenzt 5 Jahre und unbegrenzt 2 Jahre und unbegrenzt
Handel Schnellgericht 6 Monate und 2000 Pfund 6 Monate und 2000 Pfund 3 Monate und 200 Pfund
Handel Anklagegericht lebenslang und unbegrenzt 14 Jahre und unbegrenzt 5 Jahre und unbegrenzt

Das MDAR (Regulierungsgesetz zum Drogenmissbrauch) von 1985 unterteilt Drogen in fünf Kategorien, welche Ausnahmen aus dem allgemeinen Verbot für medizinische und wissenschaftliche Zwecke erlaubt. Eine Hauptaufgabe des MDAR ist die Regelung der Verschreibung und Verwaltung von Drogen durch Ärzte und die Verteilung durch Pharmazeuten.

  • Kategorie 1: kommen dem absoluten Verbot am nächsten, dürfen nicht verschrieben, verteilt oder besessen werden, außer unter besonderen Bedingungen wie Regierungslizenz.
  • Kategorie 2 und Kategorie 3: können nicht ohne Verschreibung verteilt oder besessen werden, wobei für Heroin, Kokain und Dipipanone eine besondere Lizenz des Home Office notwendig ist.
  • Kategorie 4: können ohne Verschreibung besessen, aber nicht verteilt werden.
  • Kategorie 5: können von Pharmakologen verteilt und von jedermann ohne Verschreibung besessen werden.

3. Nachforschungen und Statistiken über Drogengebrauch in Merseyside

Die brauchbarste Quelle ist hier der vom Home Office notierte Abhängigenindex. Ärzte sind verpflichtet, diesem Home Office von ihnen behandelte Kokain- und Opiatabhängige zu melden. Aus den hieraus angefertigten jährlichen Bulletins lässt sich feststellen, dass in Merseyside die gemeldeten Fälle von 22 (1979) auf 1718 (1989) angestiegen sind, wobei Liverpool den größten Anteil ausmacht. Mit dieser Zahl liegt Merseyside weit über der nationalen Rate und hat eine der höchsten Fixerquoten in England.

Weitere Studien zeigen ähnliche Zahlen, mit zukünftiger Tendenz nach oben, wobei die Dunkelziffer als zweieinhalb mal so hoch wie die bekannten Zahlen gesehen wird. Weiterhin wird der Hauptteil der Heroinkonsumenten als jung (16-25 J.), arbeitslos (90%), beschaffungskriminell und als in sozialen Brennpunkten wohnend beschrieben. Außerdem wurden Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit Opiatabhängiger und sieben Indikatoren über soziale Benachteiligung gefunden: Arbeitslosigkeit, ungelernte Arbeitskraft, öffentlicher Pachtbesitz, überfüllte Haushalte, viele Kinder, Haushalte mit nur einem Elternteil sowie fehlender Zugang zum Auto.

Anonym durchgeführte Befragungen in Wirral und South-Sefton ergaben unter 15-16 jährigen, dass jeder Dritte unerlaubte Drogen probiert hatte und jeder Zehnte regelmäßig konsumierte, in der Regel Cannabis, gefolgt von Lösungsmittel, Pilzen, LSD, Amphetamine, Hypnosedativen, Kokain und Heroin.

Ein Ansteigen des Gebrauchs von Temazepan und Crack sowie von IDUs (intravenös Drogenabhängigen) wurde beobachtet. Der häufigste Drogenkonsum erfolgt in Haushalten sowie auf öffentlichen Platzen wie Parks, diverse Straßen, öffentlichen Verkehrsmitteln und Toiletten; Cannabis wird in Öffentlichen Häusern und Nachtclubs bevorzugt, während in Diskotheken der Gebrauch von MDMA, LSD und Amphetaminen angestiegen ist. Allerdings soll es in Merseyside keine offene Drogenszene geben.

Die drei Hauptvariablen, die die Nachfrage verursachen und die Drogenverbreitung beeinflussen sind Preis, Reinheit und Verfügbarkeit. Gewöhnlich sind illegale Drogen leicht zu bekommen, wobei Preis und Feinheit im allgemeinen stabil waren.

Nachfolgende Tabelle gibt hierüber Einblick, wobei anzumerken ist, dass von Einkaufsmengen unter einem Gramm ausgegangen worden ist, so dass der Preis eher niedriger und die Qualität eher höher anzusehen ist.

Droge Preis in Pfund Reinheit
Heroin 80 Pfund pro Gramm 40%
Kokain 80 Pfund pro Gramm 50%
Amphetamine 15 Pfund pro Gramm 5%
Cannabis 25 Pfund pro 7 Gramm
LSD 5 Pfund pro Dosis
MDMA 20 Pfund pro Dosis

4. Merseysides Polizeistrategie gegen Drogenvergehen

Merseyside besitzt eine der größten Drogenpolizeitruppen in England, mit der zweithöchsten Anzahl jährlicher Festnahmen und Anklagen wegen Drogenvergehen. Für schuldig befunden oder verwarnt wurden 1746 Personen, umgerechnet fast doppelt soviel wie der nationale Durchschnitt:

Cannabis 1311 (75%)
Heroin 309 (l8%)
Amphetamine 116 (7%)

Art des Vergehens:

Besitz 1547 (89%)
Handel 166 (l0%)

Unternommene Schritte:

Verwarnung: 668 (38%)
Gerichtliche Bestrafung 1078 (62%)

Merseysides Polizei hat die zweithöchste Anzahl von Drogenbeschlagnahmungen zu verbuchen: 1719 wegen Cannabis, 370 wegen Heroin, 128 wegen Amphetaminen, insgesamt 2229.

Merseysides Polizei bemüht sich auch um die Entwicklung kooperativer Strategien mit der Gesundheitsbehörde bezüglich der Vorsorge und Behandlung des Drogenproblems auch mit Rücksicht auf HIV-Übertragung bei intravenös Drogenabhängigen. Außerdem halten Beauftragte der Gesundheitsbehörde Lehrgänge für Polizisten über Drogen/HIV-Fragen ab. Straffällige sollen nicht überwacht, sondern an Einrichtungen von Drogendiensten überwiesen, nicht wegen Drogenbesitz verfolgt, und der Spritzentausch gefördert werden.

Die Polizeiführung stellte fest, ihre Politik schließe „Leben retten genauso ein wie die Einhaltung des Gesetzes … wir müssen die intravenös Abhängigen erreichen und ihnen die Hilfe geben, die sie brauchen, aber gleichzeitig müssen wir sie gesund erhalten … Leute können von der Drogenabhängigkeit geheilt werden, aber z.B. können sie nicht von AIDS geheilt werden.“

Schwerpunkt soll nun auf Verfolgung des Drogenhandels liegen. Drogenabhängige selbst vorsichtiger behandelt werden: Die Polizei konfisziert die Droge, nimmt den Tatbestand auf, verwarnt den Gefassten formal, dass weiterer ungesetzlicher Besitz gerichtliche Konsequenzen nach sich zieht.

Merseysides Polizei war die Erste, die diese neue Haltung auch auf harte Drogen ausdehnte; man erhofft sich davon, Drogenuser von Kriminalität und möglicher Inhaftierung fernzuhalten und zu Gesundheitseinrichtungen hinzulotsen.

5. Die Strategie von Merseysides Gesundheitsbehörde

Die Gesundheitsbehörde war bisher in traditioneller Verantwortung auf den Gebieten der Behandlung und Rehabilitation zuständig. Seit 1986 wurde kooperativ eine Strategie zur Schadensreduzierung entwickelt, deren Wurzeln in San Francisco und Amsterdam liegen.

Als Antwort auf Berichte des Sozialausschusses des Unterhauses sowie offiziellen Regierungsrundschreiben, produzierte das MRD Drogenaufklärungskomitee Richtlinien für alle Drogen/HIV-Einrichtungen.

5.1. Regionale Richtlinien für Drogen/HIV-Prävention

  • Priorität für Einrichtungen, die HIV-verbreitendes Verhalten zu minimieren versuchen
  • Maximierung des Kontakts mit Drogenusern und Hilfe zu weniger risikoreichem Verhalten wie z.B. (hierarchisch geordnet): Beendigung des Spritzenteilens, Wechsel von injizierbaren zu nicht injizierbarem Drogengebrauch, Einschränkung des Drogengebrauchs, Abstinenz
  • Veränderung von professionellen und öffentlichen Stellungnahmen zum Drogengebrauch fördern
  • Experimente mit einer Vielfalt von Annäherungsmöglichkeiten, um diese Anliegen zu erreichen und Effektivität festzustellen

Innerhalb dieser Richtlinien soll jeder Distrikt der Gesundheitsbehörde Eigeninitiative übernehmen; so soll die Ausführung effektiver Planung sowie Vorbeugung gesichert und koordiniert werden unter Einsatz und Koordination aller betroffenen Einrichtungen. Weiterhin sollen Drogenkonsumenten kostenlos Kondome erhalten, Richtlinien spezifiziert und Ratschläge für Spritzenaustauschpläne erstellt werden. Ausnutzung der Medien bezüglich Drogen/HIV-Probleme sowie flexible Öffnungszeiten und minimale Wartezeiten bei den entsprechenden Einrichtungen sind weitere Punkte.

Die Verschreibung von injizierbaren Drogen soll von speziellen Teams angeleitet und gemanagt werden, die Langzeitverschreibung von injizierbaren Drogen bzw. Verschreibung von Nicht-Opiaten nur in Ausnahmefällen.

5.2. Regionale Drogenvorsorgeeinrichtungen 1990

Da sich viele Drogenvorsorgerichtungen in Entwicklungs-, Übergangs- bzw. Planungsphasen befinden, können hier nur Überblicke gegeben werden, zum einen über Leistungen in den traditionellen Kategorien (Information, Beratung, Rehabilitation, Gemeinschaftsgruppen, generelle gesetzliche Leistungen und Behandlung) sowie über neue HIV-Präventionsleistungen (Spritzentausch u.a.).

– Information

Alle Einrichtungen für Drogenkonsumenten sollen direkte Ratschläge oder Informationen über Drogengebrauch liefern. Neben üblichen Funktionen wie Beratung, Hilfe, Behandlung und/oder HIV-Prävention wird Klienten auch z.B. eine sichere Injiziertechnik beigebracht.

Besonders erwähnt werden zwei Liverpooler Einrichtungen: das MDTIC (Mersey Drogentrainings und Informationszentrum) und Healthwise.

MDTIC ist für alle zugänglich und verfügt über die größte Bücherei mit Berichten, Journalen, Büchern und Video filmen zum Thema. Weiterhin werden Lehrgänge und Beratungen für Einrichtungen und Organisationen abgehalten und die Basis für das internationale Journal über Drogenpolitik und die jährliche internationale Konferenz für die Reduzierung von drogenverursachten Schäden gebildet.

Healthwise hat vor allem die Aufgabe, Medienarbeit zu leisten. Neben Telefon- und Briefhilfsdiensten, wird vor allem mit PR-Arbeit versucht, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und zu informieren (Busse, Flugblätter, Radiosendungen u.a. Medien).

Auch andere Einrichtungen arbeiten stark mit den Medien, wobei die Aufklärung in Schulen und Jugendclubs nicht vergessen wird.

– Beratung

Alle Drogen/HIV-Einrichtungen geben natürlich auch Informationen und Ratschläge. So bietet das MDC (Merseyside Drugs Concil) als Aussteigehilfe einen Ratschlags- und Informationsdienst, Telefon und Vier-Augen-Beratung, Gruppensitzungen und Hausbesuche, alles wieder nach den Prinzipien der Schadensreduzierung.

– Rehabilitation

Rehabilitation wird hier definiert als Leistung, die beabsichtigt, die soziale Reintegration von Drogenkonsumenten durchzuführen, durch solche Mittel wie Bildung/Aufklärung, Arbeitsvorbereitungstraining, Training der sozialen Fähigkeiten und/oder Selbsthilfeprogramme.

Beispiele: der Thomas Percival Trust und das Artskills Alternative to Drugs Project (letzteres versucht vor allem die Fähigkeiten junger Abhängiger in Photographie, Malen und Zeichnen zu entwickeln).

Normalerweise laufen diese Programme auf drogenfreier Basis, obgleich Einrichtungen, die mit Krankenhäusern zusammenhängen, Methadonentgiftung beim Eintritt anbieten.

– Gemeinschaftsgruppen

Bemerkenswert in Merseyside sind die Gemeinschaftsgruppen, die älteste und einflussreichste Gruppierung in der Drogenarbeit, die aus Eltern, Verwandten und Freunden von Drogenabhängigen bestehen. In Zusammenarbeit mit diversen Einrichtungen und lokalen Größen bieten sie die üblichen Beratungshilfen an und stellen für Drogenabhängige auch freundlicherweise Elektroschockbehandlungen bereit.

– Allgemeine gesetzliche Dienste

Hier gibt es nicht viel neues zu vermelden; so berichten Merseyside‘ s Bewährungshelfer davon, dass die Hälfte ihrer Klienten Drogenprobleme hat, und stolz wird auf die Tatsache verwiesen, dass Liverpool einen Sozialarbeiter hat, der auf drogenabhängige Frauen spezialisiert ist. Auch wollen viele Hausärzte sich nicht mit problematischen Drogenabhängigen abgeben, können aber auf kurze Zeit Methadon zur oralen Einnahme oder Dihydrocodein verschreiben.

Frank Doerr

Dipl. Sozialpädagoge Studium an der FH Frankfurt/Main 1990-1994 Schwerpunkt kulturelle Sozialarbeit Diplomarbeit: Musikalische Gruppenimprovisation in der Sozialpädagogik - Wesen, Wirkung und Möglichkeiten. Fachhochschule Frankfurt/Main am 15.04.94. Parallel Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendarbeit (Musikprojekte im Lohwald/Offenbach, Musikprojekte und Einzelfallhilfe im Jugendbüro Eckenheim, Caritas Heddernheim, Stadt Frankfurt), Drogenprävention (Hochtaunus) und individuellen Schwerstbehindertenbetreuung (CeBeF Frankfurt). Danach 1994 - 1997 Kinder- und Jugendhaus Bornheim. 1996 Lehrauftrag an der FH Frankfurt, Fb Sozialpädagogik. 2000-2002 Projektleiter Selbsthilfe im Taunus (SiT). 2002-2005 Jugendberufshilfe KuBi e.V. Ab 2001 parallel freiberuflich tätig, seit 2006 Inhaber und Geschäftsführer zweier Agenturen für Online Marketing. Fachjournalist (bdfj). 2015 Lehrauftrag an der Hochschule Darmstadt, Fachbereich Informationswissenschaften.

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